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Plenarsitzung

„Wissenslücken beim Trauern schließen“

Im Plenarsaal des Landtags von Sachsen-Anhalt wurde am Sonntag, 13. November 2022, in einer Gedenkstunde im Rahmen des Volkstrauertags der Millionen Opfer von Krieg und Vertreibung gedacht. „Die Frage des Friedens ist nicht zuerst eine Frage an die Welt, sondern für jeden an sich selbst.“ – Dieser Ausspruch des deutschen Philosophen Karl Jaspers diente in diesem Jahr als Motto für die Gedenkveranstaltung des Landtags von Sachsen-Anhalt und des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Magdeburger Plenarsaal

Es sprachen Landtagsvizepräsidentin Anne-Marie Keding und Dieter Steinecke, der Vorsitzende des Landesverbands Sachsen-Anhalt im Volksbund. Die Gedenkrede hielt in diesem Jahr der Publizist und Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung vom Rossini-Quartett Magdeburg. Zudem boten Jugendliche der Projektgruppe „Spurensuche – Tagebuch der Gefühle“ aus Halle (Saale) Einblicke in ihre Nachforschungen.

Am Volkstrauertag gehe es nicht allein um das Gedenken an die Verstorben und Opfer von Flucht und Vertreibung der beiden Weltkriege, sondern es gehe um alle Menschen, die kriegerischen Handlungen zum Opfer gefallen seien, so Landtagsvizepräsidentin Anne-Marie Keding. Sie sprach am Ende der Veranstaltung auch das traditionelle Totengedenken.

Es sei unvorstellbar gewesen, dass Russland – wie im Februar 2022 geschehen – die Ukraine wieder angreifen und das Völkerrecht und alle Regelungen des Nachkriegseuropas brechen würde, betonte Dieter Steinecke vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. „Wir sehen, was Menschen erleiden müssen, und all diese Schrecken finden im Herzen Europas statt. Als ehemaliger Präsident des deutsch-ukrainischen Forums zerreißt es mir schier das Herz.“ Man müsse sich lange ignorierten Realitäten stellen, auch an den anderen aktuellen Kriegsstätten in der Welt. Das Motto des Volksbunds „Gemeinsam für den Frieden“ sei aktueller denn je, so Steinecke abschließend.

Die beiden Jugendlichen Nico und Paul sprechen am Rednerpult im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Die beiden Jugendlichen Nico und Paul stellten ihr Projekt „Spurensuche – Tagebuch der Gefühle“ am Rednerpult im Landtag von Sachsen-Anhalt vor.

Tagebuch zur Spurensuche

Mit ihrem Projekt „Spurensuche“ stellen die Jugendlichen die Bedeutung der Erinnerungskultur heraus: „Was können wir tun, damit die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nicht verblasst?“ Es gehe darum, Geschichte für junge Menschen erfühlbar zu machen. Aus Statistiken und großen Zahlen würden regionale Geschichten erzählt. Viele verschiedene Völker seien Opfer des Nationalsozialismus geworden, doch die Geschichten der Toten seien dennoch ganz individuell, die Opfer seien Mütter, Brüder, Onkel, Schwestern, Freunde, Väter gewesen. In diesem besonderen Projekt würden Fakten gesammelt und in einem Tagebuch festgehalten – darunter seien Texte, Bilder, Videos, Comics und Gedichte. Antisemitismus und Rassismus seien keine Phänomene von früher, sondern sehr aktuell. Der gemeinsame Austausch sei der Schlüssel für Akzeptanz und gegen Vorurteile.

Der Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn am Rednerpult im Plenarsaal des Landtags von Sachsen-Anhalt.

Der Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn hielt am Volkstrauertag 2022 die Gedenkrede im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Gedenkrede des Historikers Wolffsohn

Der Volkstrauertag habe in Deutschland eine lange Tradition – von den unterschiedlichen Staatsformen sei er verschieden ausgelegt und instrumentalisiert worden, erinnerte Prof. Dr. Michael Wolffsohn. Er stellte sich und allgemein die Frage, ob der Volkstrauertag seiner Aufgabe noch gerecht werde oder inwieweit er angepasst werden müsste, dass er dieser wieder gewidmet sein könnte.

Seit der erstmaligen Ausrichtung des Volkstrauertags in den 1920er Jahren bis zum Jahr 2022 seien regelrecht „tektonische Veränderungen“ in der Gestaltung des Volkstrauertags erkennbar. Heute gebe es in Deutschland eine gewisse Flexibilität bei der Ausgestaltung. Man gedenke pauschal aller Opfer von Kriegen, Gewaltherrschaft und Terrorismus sowie der bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr gefallenen deutschen Soldaten. Das sei zwar „sympathisch und moralisch, aber auch abstrakt“, so Wolffsohn. Abstraktes allerdings wecke keine Gefühle und bleibe deshalb wirkungsschwach.

Denn abstrakt erscheine den Deutschen auch der Krieg selbst, dabei sei er doch so nah. Dies habe auch schon für die Balkankriege am Anfang der 1990er Jahre gegolten. Man müsse wieder mehr Seele und Herz der Menschen erreichen, forderte Wolffsohn. Denn wer „alle“ betrauere, betrauere am Ende niemanden. Und wer sich in Kriegszeiten allem voran um Energiekosten sorge, trauere um den Verlust von Wohlstand, aber nicht um Menschen. Die Inhalte des Volkstrauertags in Deutschland sollten konkretisiert werden, damit Lehren aus dem Leben und Sterben der Opfer gezogen werden könnten, erklärte der Historiker.

Auch die demographische Revolution der Jahrzehnte von den Wirtschaftswunderjahren bis heute sei in die Überlegungen unbedingt einzubeziehen. „Vielen Menschen kamen und blieben, viele kommen und bleiben.“ Die dauerhaften Einwohner Deutschlands würden immer vielfältiger: „Wer also ist heute das deutsche Volk, das am Volkstrauertag trauert?“ Wie umgehen mit einer Erinnerungskultur, die scheinbar auf eine homogene Bevölkerung ausgerichtet ist, die aber eigentlich sehr heterogen ist?

Wie erreicht man auch die „neuen Deutschen“, von denen ein Viertel einen Migrationshintergrund habe? Doch auch bei ihnen ließen sich Parallelen in der Geschichte entdecken, die „deutsche“ Erinnerungskultur also spiegeln. Es gelte, Wissens- und Gefühlslücken der Alt- und Neudeutschen zu schließen, um gemeinsam trauern zu können. Denn nur, wer gemeinsam trauern könne, sei auch in der Lage, zusammen zu feiern – das Leben zum Beispiel.

Im Anschluss an die Gedenkstunde im Plenarsaal des Landtags von Sachsen-Anhalt fand auf dem Magdeburger Westfriedhof eine Kranzniederlegung statt.