Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Legendenbildung zum Sommer 2015 wuchert und wuchert. Umdeutungen, rechtsextreme Narrative, schlicht Lügen und Fehlinformationen kursieren, um das damalige Geschehen einseitig umzudeuten. Dieser Sommer der Migration, der Sommer 2015, war eine herausfordernde Sondersituation.
Aber es gibt auch diese Perspektive: Er war vor allem dies: Er war ein kraftvoller Ausdruck einer humanen Migrationspolitik, eine Höchstleistung im Bereich des Krisenmanagements und eine Sternstunde des ehrenamtlichen Engagements.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Deutschland kann mit Stolz darauf zurückblicken, vor allem unsere Bürgerinnen. Wir haben uns als starkes Land erwiesen, mit festen Werten, großer Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein. All das wollen Sie vergessen machen mit Schauergeschichten von Kontrollverlust, Überforderung und Islamisierungsängsten.
Ich halte es an dieser Stelle grundsätzlich mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land. Genau so.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Hendrik Lange, Die Linke)
Die Fratze der Inhumanität hat uns Herr Siegmund heute schon zur Genüge vor Augen geführt - gruselig. Dabei klingt ganz die von seinem Parteifreund Höcke geforderte faschistoide „wohltemperierte Grausamkeit“ durch.
Nun denn, wider die Legendenbildung:
(Unruhe)
Die damalige Bundesregierung hat sich angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und der daraus folgenden Migrationsbewegungen dazu entschlossen, unsere Grenzen nicht zu schließen, also unsere Grenzen im Zweifel nicht mit Waffengewalt gegen flüchtende Frauen, Männer und Kinder zu verteidigen. Was für eine unmenschliche Vorstellung, man hätte unmittelbaren Zwang und gewaltsame Pushbacks eingesetzt angesichts Tausender Menschen, die einzig Schutz und Obdach suchten.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Wir saßen nie in einer mauerbewährten Festung und dann hat Kanzlerin Merkel einfach die Zugbrücke heruntergelassen und Belagerern kampflos Zutritt gewährt, wie die extreme Rechte immer wieder suggeriert - nein, wir haben an offenen Grenzen festgehalten, gerade in dieser Ausnahmesituation.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zurufe von Ulrich Siegmund, AfD, und von Christian Hecht, AfD)
Wider die Legendenbildung: Unsere gesellschaftliche Ordnung hat Bestand, damals wie heute. Ja, manches war schwierig, einiges war auch sehr schwierig. Aber das Schreckgespenst Kontrollverlust ist ein Schauermärchen. Und ganz ehrlich: Wenn ein menschenverachtender Diktator, der weder vor massenhafter Folter noch vor Massenmord, noch vor Giftgaseinsatz zurückschreckt, Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt und dabei durch Luftschläge des Putin-Regimes unterstützt wird, dann kann notwendige Hilfe nicht unbedingt komplett nach deutscher Bürokratie ablaufen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Deutschland hat in dieser Zeit unbürokratisch geholfen. Natürlich brachte das Verwaltungsabläufe und die Handelnden vor Ort an ihre Belastungsgrenzen - und ja, manchmal auch darüber hinaus. Aber durch den großen Einsatz der Kommunen und ihrer Beschäftigten und vor allem durch tausendfaches Engagement von Freiwilligen ist diese Phase beherrschbar geblieben. Weder brach Chaos aus, noch Anarchie.
(Christian Hecht, AfD: Das Chaos ist auf der Straße!)
In einem Land mit mehr als 80 Millionen Einwohnern bricht eben nicht alles zusammen, wenn 1 Million Menschen hinzukommt. In einer mit 80 Personen gut gefüllten Kneipe geht ja auch nicht gleich das Bier aus, werden Stühle knapp und sind plötzlich alle Tische überbelegt, wenn eine weitere Person den Raum betritt. Das ist die Relation der Fluchtbewegung in den Jahren 2015 und 2016.
(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Hecht, AfD: Erzählen Sie das einmal den vergewaltigten Frauen und den Abgemesserten! Unfassbar!)
Dazu ein Schlaglicht: Bereits Mitte 2015 lebten in Sachsen-Anhalt etwa zwei Drittel der Geflüchteten im Land in Wohnungen, die von Kommunen oder ihnen selbst gemietet wurden und nur ein Drittel in Gemeinschaftsunterkünften. Hier gab es kaum belegte Sporthallen. Hier gab es auch keine Zeltcamps. Trotz aller Herausforderungen wurde in unserem Land vieles gemeistert.
Und nun, Herr Siegmund, einmal der Faktencheck zu Ihren Aussagen in der Einbringung.
(Oliver Kirchner, AfD: Jetzt wird es spannend! - Zuruf von der AfD: Der Faktencheck!)
Sie haben behauptet, der Anteil junger Männer unter den Geflüchteten hätte in den Jahren 2015 und 2016 bei 80 % gelegen.
(Ulrich Siegmund, AfD: Nein, das hat Herr Gniffke gesagt!)
Das ist gelogen. Tatsächlich waren es 70 %.
(Lachen bei der AfD)
Sie suggerieren mit Ihren 0,5 % Asylanerkennung, dass alles andere illegal wäre. Das ist gelogen oder zumindest böswillig verzerrt.
(Lachen bei der AfD)
Im Jahr 2015 haben fast 100 % der eingereisten Syrer einen Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten.
(Beifall bei den GRÜNEN - Unruhe)
Sie waren und sind legal hier.
(Zurufe von der AfD)
Sie haben behauptet, fast keiner der Flüchtlinge sei qualifiziert gewesen. Das ist eine Lüge. 66 % der syrischen Geflüchteten arbeiteten vor ihrer Flucht als Fachkräfte,
(Lachen bei der AfD - Christian Hecht, AfD: Ja, genau! Alles Leistungsträger!)
25 % als Spezialisten oder Experten und nur 9 % in Helfertätigkeiten. Im letzten Jahr arbeiteten 75 % aller arbeitstätigen Syrerinnen in Deutschland in Berufen, die einen Berufs- oder Hochschulabschluss voraussetzen.
(Lachen bei der AfD)
Sie behaupteten, nur 1 700 Syrerinnen seien nach Assads Sturz zurück nach Syrien gegangen. Das ist eine Lüge. Es waren 4 000 Menschen, die den Neuanfang in Syrien gewagt haben.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Ich könnte noch eine ganze Weile so weitermachen. Das hier sind nur ein paar Beispiele dafür, wie groß Ihr Mut zur Wahrheit ist und wie es mit Ihren Fakten so kommt.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der Linken - Sebastian Striegel, GRÜNE: Er kann halt nur Hetze, der Siegmund!)
Fakt ist: Es gab weder eine Grenzöffnung, noch einen Kontrollverlust. Nüchtern betrachtet war die Phase 2015 eine temporäre Ausnahmesituation mit begrenzten Steuerungsdurchgriffen, etwa im Fall von Registrierung und Verteilung von Asylsuchenden. Aber durch Krisenmanagement und neue Gesetze
(Unruhe)
Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:
Meine Damen und Herren! Es wäre ganz gut, ein bisschen den Geräuschspiegel zu senken, weil man sonst nichts mehr verstehen kann.
Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):
Getroffene Hunde bellen. - Aber durch Krisenmanagement und neue Gesetze, z. B. die Asylpakete I und II, wurde dies schrittweise überwunden. Wer hier Kontrollverlust ventiliert, der verschweigt die Arbeit der vielen, die Ordnung geschaffen haben.
Wie sieht es aktuell aus? - Ende 2024 lebten mehr als 29 400 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit in Sachsen-Anhalt. Hinzu kommen bereits Tausende eingebürgerte Menschen aus Syrien. Zwischen 2015 und 2024 erhielten in Sachsen-Anhalt mehr als 4 000 Menschen aus Syrien die deutsche Staatsbürgerschaft. Migration heißt eben nicht nur temporär ankommen, sondern heißt oft auch dauerhaft bleiben. So leid es mir auch für Ihr Volksphantasma tut, liebe AfD: Viele Migrantinnen sind gekommen, um zu bleiben - zum Glück.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken)
Ja, Migration verändert Gesellschaften. Das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Migration ist nicht ein Sonderfall, eine Ausnahme. Zeigen Sie mir eine deutsche Familie, die nicht zumindest zwei, drei Generationen zurück eine Einwanderungsgeschichte hat. Das ist eher die Ausnahme als die Regel.
(Zuruf von der AfD: Echt?)
Migration prägte und prägt Gesellschaften. Vormals Fremde werden Mitbürgerinnen. Vormals Fremdes wird vertraut und Teil einer neuen Normalität, so wie unsere arabischen Zahlen, der englische Fußball, ja, die südamerikanische Kartoffel, man will es kaum glauben, der Döner. Kulturen sind immer ein Amalgam verschiedenster Einflüsse. Das Hybride ist das Normale.
(Zurufe von der AfD: Der Döner! - Sebastian Striegel, GRÜNE: Ja, esst ihr heimlich, den Döner!)
Eindeutigkeit ist immer ein Hirngespinst.
Doch kommen wir nun zu ein paar Hard Facts. Die Erwerbsbeteiligung der seit 2015 Geflüchteten ist stark gestiegen. Knapp 65 % der 2015 Eingereisten im erwerbsfähigen Alter hatte im Jahr 2023 einen Job - im Vergleich dazu 70 % der Gesamtbevölkerung. In Sachsen-Anhalt waren im Jahr 2023 etwa 130 Ärztinnen und Ärzte aus Syrien registriert. Ich kenne einige davon bei mir aus dem Krankenhaus, und wir sind froh darüber, dass sie da sind.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der Linken und von Dr. Katja Pähle, SPD)
Das entspricht etwa 1,3 % aller berufstätigen Ärzte hierzulande. Wir brauchen sie. Die Logistikbranche, das produzierende Gewerbe, Gastronomie, aber auch die Pflege- und Gesundheitsberufe - überall würden noch größere Lücken klaffen, wenn nicht Menschen aus Syrien und inzwischen auch aus der Ukraine hier leben und hier arbeiten würden.
Postmigrantisch gedacht war das Jahr 2015 kein Betriebsunfall, sondern ein Katalysator. Deutschland und Sachsen-Anhalt haben dauerhafte Institutionen, Regeln und Routinen für eine vielfältige Gesellschaft aufgebaut. Die Erträge im Sinne von Arbeitsmarkt, Demografie und bürgerschaftlicher Energie sind real. Die Aushandlungen bleiben und sie werden bleiben. Sie müssen politisch gestaltet werden, aber ganz sicher nicht nostalgisch negiert.
Meine Bilanz in Bezug auf Ihren Kontrollverlust: weniger Leerstand, mehr Pflegekräfte, mehr Zukunft. Ihrem vermeintlichen Chaos entsprangen Aktenzeichen, Ansprechpartner und Arbeitsverträge. Statt hier weiter Zeter und Mordio zu schreien, Herr Siegmund, weinen Sie doch bitte leise zu Hause um Ihr ach so schönes germanisches Urvolk und akzeptieren Sie die Tatsache, dass Deutschland, wie im Übrigen ganz Europa, schlichtweg ein Einwanderungsland ist.

