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Plenarsitzung

Transkript


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen,“ 

(Zuruf von der AfD)

„seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen werde […]“

Das sind Worte des Eides, den jede deutsche Bundeskanzlerin bzw. jeder deutsche Bundeskanzler beim Amtsantritt ablegt. 

Die Worte „Dem deutschen Volke“ finden sich nicht nur im Amtseid, sie stehen auch über dem Westportal des Deutschen Bundestages. Ich denke, Sie alle haben es vor Augen. Das ist keine bloße Rhetorik, das ist kein bloßer architektonischer Schmuck, das ist ein staatspolitischer Auftrag und stellt eine grundlegende Frage: Wer ist eigentlich gemeint, wenn vom deutschen Volk die Rede ist? 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Frage wird im Moment einmal mehr schärfer gestellt, und das nicht zufällig. Denn wenn Friedrich Merz öffentlich darüber spricht, dass sich das Stadtbild verändere, und daraus ableitet, dies sei ein Problem, dann schwingt dieser Bemerkung ein gefährlicher Subtext mit, der sich genau auf die Frage bezieht: Wer gehört eigentlich dazu? 

Merz legt mit dieser Bemerkung nahe, dass Zugehörigkeit sichtbar, äußerlich, vielleicht sogar erblich sei. Mit dieser Andeutung erreicht er etwas: Er bringt viele Menschen in Deutschland dazu, sich zu fragen: Bin ich eigentlich noch mitgemeint? 

Zu wem genau sagt Friedrich Merz denn da eigentlich nicht „mein Volk”? Diese Äußerung zum Stadtbild mag auf den ersten Blick beiläufig wirken, in Wahrheit ist sie mindestens höchst fahrlässig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Denn Zugehörigkeit ist keine Nebensächlichkeit; sie ist eine Grundfrage unserer Demokratie. Wer Zugehörigkeit über das Stadtbild verhandelt, der meint in Wahrheit das Erscheinungsbild von Menschen. Wer Zugehörigkeit phänotypisch, also anhand von Hautfarbe, Haarstruktur, Kopftuch oder Nachnamen, zu bestimmen glaubt, der bewegt sich gefährlich nah an völkischen und ethnokulturell homogenen Vorstellungen. Dann sind auch Chauvinismus und „Blut und Boden“-Romantik nicht mehr weit. 

(Oh! bei der CDU)

Doch Friedrich Merz hat im Zusammenhang mit dieser ohnehin problematischen Rhetorik noch eins draufgesetzt, als er sinngemäß sagte: „Fragen Sie mal Ihre Töchter.” Dieses patriarchale „Fragen Sie mal Ihre Töchter” setzt dem latent Völkischen jetzt auch noch eine sexistische Krone auf. 

(Zustimmung - Oh! bei der CDU - Zuruf: Nein! - Unruhe)

- Ich freue mich über das Interview zum Thema „toxische Männlichkeit”, das ich gleich führen darf. 

Was schwingt denn darin mit?

(Unruhe - Sebastian Striegel, GRÜNE: Zuhören!)

Die Vorstellung von Fremden als Bedrohung unserer Frauen, die Frau als Besitz, als Schutzobjekt männlicher Herrschaft, nicht als eigenständiges, freies Subjekt. 

(Zurufe von der CDU und von der AfD)

Mich gruselt das. Denn wer so redet, 

(Zurufe)

der blendet die Realität völlig aus: die tausendfachen Anfeindungen, denen Frauen mit Kopftuch oder People of Color täglich ausgesetzt sind, 

(Unruhe)

und zwar nicht durch fremde Männer, sondern durch vermeintlich deutsche, selbsternannte Beschützer der abendländischen Kultur. Denn auch sie fühlen sich unsicher, immer unsicherer in unserem Stadtbild: die muslimische Frau, wenn Männer in Springerstiefeln die Straßenbahn betreten; 

(Unruhe)

der dunkelhäutige Jugendliche, wenn ihm angetrunkene Fußballfans entgegenkommen;

(Zuruf)

das homosexuelle Paar, das Hand in Hand über den Dorfplatz schlendert, und ja, auch die Person mit Kippa, die durch Neukölln spaziert,

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD)

oder die Frau, die plötzlich ihren Ex-Partner vor der Tür stehen sieht, von dem sie sich im Streit getrennt hat. 

(Unruhe)

Dabei hat sie die Femizide alle drei Tage in Deutschland im Hinterkopf. Die Täter sind Männer, oft Deutsche. Deshalb war die Reaktion vieler Frauen auf die Aussage von Kanzler Merz so wichtig. 

Mehr als 50 prominente Frauen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, haben in einem offenen Brief geschrieben: „Wir sind die Töchter.“, und sie haben gesagt: „Wir wollen über die Sicherheit unserer Töchter sprechen, aber ernsthaft und nicht als Deckmantel für rassistische Narrative.“ 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie fordern, dass endlich konsequent gegen sexualisierte und häusliche Gewalt vorgegangen wird, dass Frauenhäuser ausreichend finanziert werden, dass Femizide als eigener Straftatbestand anerkannt werden, dass es einen wirksamen Schutz vor digitaler Gewalt gibt, dass Abtreibungen entkriminalisiert werden und dass echte finanzielle Unabhängigkeit für Frauen normal wird. 

Ich sage hier ganz deutlich: Wir GRÜNEN stehen ohne Wenn und Aber hinter all diesen Forderungen. Wir tragen sie seit Jahren in die Parlamente, in Haushaltsverhandlungen, in Gesetzesinitiativen und in den Alltag der politischen Arbeit. Denn wer Gleichstellung ernst meint, der muss Frauen wirklich schützen und darf sie nicht als Projektionsfläche für Angstpolitik instrumentalisieren. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Also: Wer ist gemeint mit dem deutschen Volke? Im humanitären Sinne ist entscheidend, wer sich hier aufhält. Es gibt keine illegalen Menschen. 

(Unruhe)

Jeder Mensch, der auf dem Boden der Bundesrepublik steht, ist ein Träger von Grundrechten - unabhängig von Herkunft oder Pass. Diese Rechte sind nicht erblich; sie sind universell und unveräußerlich. Das schließt Abschiebungen von Straftätern nicht aus. Wenn Menschen aus Syrien, die nach Jahren hier angekommen sind, hier arbeiten, ihre Kinder in die Schule schicken, Freundschaften schließen und hierbleiben wollen, dann sollen sie das tun, dann gehören sie dazu, nicht als Gäste, sondern als Nachbarinnen, Kolleginnen, Mitbürger oder Augenärzte. Es ist dramatisch, wenn sie wegen Alltagsrassismus unser Land wieder verlassen. Wir brauchen diese Menschen hier auch für unser gutes Leben in der Zukunft. Dabei hilft, ehrlich gesagt, nichts so wenig wie die einwanderungspolitische Symbolpolitik der CDU.

Einbürgerungen erschweren und am liebsten der Doppelpass wieder abschaffen; sobald in den Herkunftsländern keine Bomben mehr fallen, alle rausschmeißen - das mag ein konservatives Gemüt irgendwie kühlen, aber es löst weder die demografischen Probleme noch irgendwelche Probleme im Stadtbild oder in der Gesellschaft. 

Bitte gewöhnen Sie sich doch daran, dass z. B. die Siegerin des diesjährigen bundesweiten Vorlesewettbewerbs an deutschen Schulen Ayla U. und die Gewinnerin der diesjährigen deutschsprachigen „Poetry Slam“-Meisterschaft Ayse I. heißen; Letztere trägt auch noch ein Kopftuch. Für Merz würden beide wahrscheinlich das Stadtbild stören. Aber das ist unser aller Deutschland im Jahr 2025. Get over it, liebe Konservativen. 

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der AfD)

Wenn Friedrich Merz in Folgestatements dann auch noch meint, Menschen in der dritten oder vierten Generation mit Migrationsgeschichte als besondere Gruppe mit ansprechen zu müssen, dann verrutscht es vollends. Wann, bitte, gehört man denn hier unverrückbar dazu? Wann gehört man denn zum Merz‘schen Wir? Nur mit einem sauerländischen Ahnenstamm bis ins 17. Jahrhundert? 

Zugehörigkeit bemisst sich nicht an Herkunft, sondern an Haltung und an der Entscheidung, Verantwortung für sich, für andere und für unser gemeinsames Land zu übernehmen. 

Die sogenannte Stadtbilddebatte ist keine Nebensächlichkeit. Sie ist eine Grundsatzdebatte; denn es geht darum, wem unsere Städte gehören und damit auch, wem unser Land gehört. Wir GRÜNEN sagen: Eine Stadt gehört nicht einigen, sie gehört allen, die dort leben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen Städte, in denen niemand das Gefühl hat, fehl am Platz zu sein; Städte, in denen Vielfalt sichtbar ist - nicht als Störung, sondern als Stärke. 

Aber ja, natürlich, gibt es in jeder Stadt Ecken, in denen man sich unwohl fühlt, in denen Probleme offensichtlich sind und wo man nicht so gern hin- oder entlanggeht. Ein Beispiel: Samstagmorgen am Bahnhof Magdeburg die betrunkenen Männergruppen - darauf habe ich auch keinen Bock. Das sind übrigens nicht immer Migranten, meistens nicht. Das ist ein Ort, an dem man sich fürchtet. Die Ursache für all das sind meist Armut und soziale Deprivation. 

Deshalb haben die GRÜNEN einen Fünfpunkteplan für ein solidarisches Stadtbild vorgelegt mit konkreten Schritten, wie Städte tatsächlich sicherer und schöner werden können:

Erstens. Endlich die Finanznot der Kommunen beenden. Eine Stadt, die dauerhaft unterfinanziert ist, kann ihre Aufgaben nicht erfüllen. 

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Nur handlungsfähige Kommunen können in saubere Parks, intakte Straßen und offene Jugendeinrichtungen investieren. All das trägt zu einem sicheren Stadtbild bei. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweitens. Die soziale Infrastruktur sichern. Es sind Orte der Begegnung wie Bibliotheken und Theater, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Wo solche Angebote bestehen und niemand auf sich allein gestellt ist, da bleibt für Ausgrenzung weniger Platz. Das ist gut für ein sicheres Stadtbild. 

Drittens, Sicherheit für alle. Jeder Mensch soll sich auf unseren Straßen und Plätzen sicher fühlen. Deshalb müssen wir auf Prävention setzen und entschlossen die organisierte Kriminalität bekämpfen. Es gilt, statt symbolischer Panikpolitik und Angstmache echten Schutz zu gewährleisten: mehr Polizeipräsenz, wirksame Strafverfolgung und Sozialarbeit, die Kriminalität erst gar nicht entstehen lässt. Das ist gut für ein sicheres Stadtbild.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Viertens, und in der Debatte nicht unwichtig, Schutz von Frauen im öffentlichen Raum und zu Hause. Für uns sind Frauen nicht bloß Töchter, die man in Debatten als Vorwand nutzt, sondern Bürgerinnen mit einem eigenen Anspruch auf echte Sicherheit. Wir sorgen für gut beleuchtete Wege, für genug Frauenhausplätze und für ein konsequentes Vorgehen gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen, damit keine Frau sich fürchten muss, und zwar weder auf dem Heimweg noch in den eigenen vier Wänden. 

An dieser Stelle sehr deutlich: Wer von Töchtern spricht, der darf sich bei einem Catcalling-Verbot nicht wegducken. Das ist bigott. 

(Beifall bei den GRÜNEN)

Fünftens, Mietwucher bekämpfen, Leerstand verhindern, lebenswerte Innenstädte sichern. Es darf nicht länger sein, dass exorbitante Mieten Familien aus ihren Wohnungen verdrängen, während Investoren Häuser absichtlich leer stehen lassen. Wir schaffen wieder Wohnraum zum Leben statt Spekulationsobjekte, damit unsere Innenstädte lebendig bleiben. Wohngemeinnützigkeit, Mietendeckel, Sozialbindung, das sind die Schlagwörter dafür, das sorgt für ein sicheres Stadtbild. 

Sehr geehrte Damen und Herren! Das Stadtbild ist immer auch ein Gesellschaftsbild, und wir Grüne wollen eines, das offen, gerecht und solidarisch ist. Heimat entsteht dort, wo Menschen leben können, ohne sich erklären zu müssen. Und genau dafür stehen wir. - Vielen Dank.