Landtagspräsident Dr. Gunnar Schellenberger hat zu Beginn der 100. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt in der 8. Wahlperiode (13. November 2025) mit einer Erklärung an die Wiedergründung des Landes Sachsen-Anhalt vor 35 Jahren erinnert.

Blick in den Sitzungsraum der ersten Landtagssitzung am 28. Oktober 1990 in der Johann-Philipp-Becker-Bundeswehrkaserne in Dessau.
„Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor 35 Jahren sind mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages auf dem Gebiet der DDR die im Jahre 1952 durch den SED-Staat faktisch zu Grabe getragenen fünf Länder und damit auch das Land Sachsen-Anhalt wiedererrichtet worden. Mit dieser Reföderalisierung der DDR hatte bereits die Regierung de Maiziere nach der freien Volkskammerwahl die Umsetzung einer der zentralen Forderungen der friedlichen Revolution im Herbst 1989 auf den Weg gebracht.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, an all jene mutigen Frauen und Männer zu erinnern, die couragierte Träger der friedlichen Revolution in den geschützten Räumen der Kirchen sowie auf den Straßen und danach verantwortungsbewusste Gestalter des Macht Interregnums insbesondere an den Runden Tischen in den Bezirken Halle und Magdeburg waren. Ohne sie hätte der gewaltlos gebliebene und letztlich geglückte Prozess hin zu demokratisch legitimierten Strukturen der Ausübung politischer Macht nicht so ablaufen können, wie es der Fall war. Diese Bürgerbewegten, wie sie gerne wertschätzend genannt wurden und werden, haben sich um Sachsen-Anhalt und um Deutschland verdient gemacht. Ihnen gilt der Dank des Hauses.
Handlungsfähig wurde das wiederrichtete Land Sachsen-Anhalt durch die Wahlen zum Landtag am 14. Oktober 1990, durch die Konstituierung des neugewählten Landtages am 28. Oktober 1990, durch die Entscheidung der Hauptstadtfrage sowie durch die Wahl eines Ministerpräsidenten am gleichen Tage. Unter uns sitzt mit dem Kollegen Detlef Gürth ein Mann, der damals am 28. Oktober 1990 in der Dessauer Johann-Philipp-Becker-Kaserne als junger Abgeordneter dabei war. Liest man die Eröffnungsrede des Alterspräsidenten, des liberalen Abgeordneten Heinz Hildebrandt, heute nach, dann atmen selbst die im Stenografischen Bericht bescheiden in Druckerschwärze abgedruckten Sätze die erhaben-begeisterte Stimmung eines historischen Augenblicks.
Heinz Hildebrandt saß in Försteruniform im Präsidium und berichtete über seinen Lebensweg, der vor allem durch seine Beteiligung am Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Bitterfeld, die Inhaftierung beim MfS in Halle und durch das anschließende Verbot geprägt war, seinen – wie er es betonte: geliebten – Försterberuf ausüben zu dürfen. Dass gerade er die Eröffnung der Landtagssitzung leiten dürfe, bezeichnete er vor diesem Hintergrund als die Bestätigung seines Lebens. Dass Heinz Hildebrandt den historischen Bogen zur Konstituierung des ersten Landtages am 18. November 1946 im Stadtschützenhaus in Halle schlug, verdeutlichte, dass am 28. Oktober 1990 in Dessau nichts Alltägliches geschah, sondern Geschichte geschrieben worden ist.
Der am 28. Oktober 1990 gewählte erste Präsident des Landtages, der Hallenser Dr. Klaus Keitel, gab dem Haus, ja dem ganzen Land in seiner Antrittsrede den Geist vor, in dem zu arbeiten sei, indem er sagte – ich zitiere: ‚Dieses Sachsen-Anhalt ist eingebunden in ein größeres Ganzes: In die Bundesrepublik Deutschland und in die Europäische Union. Diese Einbindung garantiert uns die Solidarität der Bundesländer und der Völker Europas. Wir erfahren diese Solidarität täglich durch die Unterstützung und Beratung beim Aufbau demokratischer Strukturen. Wir sind den Damen und Herren, die sich aus den Altländern der Bundesrepublik Deutschland dafür zur Verfügung gestellt haben, außerordentlich dankbar und werden ihren Einsatz nicht vergessen.‛
Und Präsident Keitel weiter: ‚Solidarität soll aber nicht nur entgegengenommen und eingefordert, sie soll auch entgegengebracht und angeboten werden. Nur wer letztlich bereit und in der Lage ist, Solidarität zu üben, kann für sich in Anspruch nehmen, Solidarität verdientermaßen empfangen zu haben. Sehen wir darin eine Verpflichtung, auch hier im Landtag bei aller Notwendigkeit der politischen Auseinandersetzung in der Solidarität der Demokraten zusammenzustehen.‛
Soweit Präsident Dr. Klaus Keitel vor 35 Jahren nach seiner Wahl mit seinem beeindruckenden, letztlich zeitlosen, also immer noch aktuellen Credo. Stellen wir diese Verpflichtungen, die uns unsere Altvorderen vor 35 Jahren mit auf den Weg gegeben haben, in unsere Zeit mit ihren Herausforderungen. Und erweisen wir uns ihnen als würdig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

