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Plenarsitzung

Die erste freie Wahl

In jedem Zeitalter hat es Menschen gegeben, die ihrer Zeit manchmal viel, manchmal ein wenig voraus waren. Selbst dieses „wenig“ kann mitunter aber große Bedeutung haben – ideell und praktisch. Der kleine Ort Mildensee, heute zur kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau gehörend, gibt ein gutes Beispiel ab. Und gut ist im Grunde untertrieben, denn die Mildenseer haben – man muss da gar nicht so bescheiden sein – sachsen-anhaltische Geschichte geschrieben.

Im November 1989 fiel die Mauer, das Leben hinter Stacheldraht und Eisernem Vorhang fand ein abruptes Ende, mit den neuen Reiseregelungen wurde der Grenzübertritt erleichtert. Der Weg in die tatsächliche Freiheit war geebnet, sie war aber längst noch nicht errungen. Noch immer stand die SED/PDS an der Spitze des Staates, Wahlen, wie sie heute gang und gäbe sind – allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim –, hatte es noch nicht gegeben. Im Januar 1990 vereinbarte der Zentrale Runde Tisch in Berlin die ersten – für März 1990 festgesetzten – freien Wahlen zur Volkskammer, dem Parlament der noch bestehenden DDR. Den Mildenseern ging das alles nicht schnell genug.

Im Februar 1990 wurde im Klubhaus in Mildensee zur ersten freien Gemeindewahl gebeten. Foto: privat

Mildensee dreht am Rad der Zeit

„Endlich etwas tun“, das war die Triebfeder, die vor allem die Mitstreiter des Neuen Forums in Mildensee dazu brachte, aus der Ohnmacht politischen Handelns auszubrechen und die Geschicke des Ortes in die eigene Hand zu nehmen. Und so wurde Mildensee auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts der erste Ort, in dem nach dem Mauerfall eine freie Wahl stattfand. Seit November 1989 hatten sich Einwohner des Ortes, Mitglieder des Neuen Forums und Pfarrerin Eva-Maria Schneider regelmäßig im Pfarrhaus getroffen und in intensiven Diskussionsrunden darüber nachgedacht, wie man in Mildensee die „Wende“ gestalten könne.

„Als Außenstadtteil Dessaus (seit 1952) war der Ort von den Verantwortlichen der Stadt längst abgeschrieben“, erinnert sich Eva-Maria Schneider. Die Anliegen des Ortsteils waren jahrelang missachtet worden. Die Missstände lagen 1989 klar auf der Hand, die Gesprächsrunden waren folglich hitzig. Doch der Wille zur Veränderung wurde die treibende Kraft. Die Versammlung sprach sich für die Wahl eines eigenen Gemeinderats samt Ortsbürgermeister aus.

Frei wählen – wie geht das?

Doch frei wählen – wie geht das? Nach mehr als 56 Jahren Diktatur fehlten die realen Vorbilder. Pfarrerin Schneider aber hatte eine Idee: Man könne sich doch an der Wahl zum Gemeindekirchenrat orientieren, die sei demokratisch, durchschaubar und funktioniere. Gesagt, getan! Nach anfänglichen Schwierigkeiten gaben die Dessauer Stadtoberen ihr Einverständnis zur Wahl. Voraussetzung: Mehr als 50 Prozent der Mildenseer müssten ihre Stimme abgeben. Diese Bedingung wurde erfüllt.

Jeder erwachsene Einwohner Mildensees durfte zunächst Wahlvorschläge in verschlossene Holzkästen einwerfen, schließlich stellten sich 28 Frauen und Männer erst in einer Einwohnerversammlung Ende Januar vor und dann am 3. Februar 1990 zur Wahl. Am Wahltag standen schon morgens um 8 Uhr die ersten Bewohner zur Stimmabgabe bereit. 18.46 Uhr am selben Tag waren die Stimmen ausgezählt. Zwölf Mitglieder schafften es in den ersten frei gewählten Gemeinderat – darin vertreten waren neben Pfarrerin Schneider auch Kaufleute, die örtliche Kohlenhändlerin, die Gemeindeschwester und ein Lehrer. Zimmermann Hans Lingner wurde zum ersten demokratisch gewählten Ortsbürgermeister der DDR.

Die Gemeinderats- und Bürgermeisterwahl stellte in der Geschichte Mildensees eine wichtige Zäsur dar: Die Mildenseer hatten die Zeichen der Zeit erkannt, der Aufbruch in eine neue Gesellschaft begann – verbunden mit vielen Erfolgen, aber auch einigen Rückschlägen.

Was von damals geblieben ist

In einem kurzen Interview erklärt Pfarrerin Eva-Maria Schneider 25 Jahre nach der ersten freien Gemeinderatswahl in Mildensee, was von der damaligen Aufbruchsstimmung erhalten geblieben ist.

Redaktion: Mildensee erlebte in den 1990ern einen „rasanten Aufstieg“ (Zitat Ortsbürgermeister Hans Lingner). Wie groß war der Anteil des neuen Gemeinderats an dieser Entwicklung?

Eva-Maria Schneider: In der Zeit nach der Wende herrschte Aufbruchsstimmung. Manche bürokratischen Hürden waren noch nicht so hoch wie heute. Es gab eine Reihe von Förderprogrammen, von denen auch Mildensee sehr schnell profitierte. Durch die Arbeit des Ortschaftsrats mit dem Ortsbürgermeister Hans Lingner an der Spitze konnten einige Projekte für die Infrastruktur in Mildensee für eine Verbesserung des Wohnumfelds und für die Stärkung des Miteinanders umgesetzt werden. Die Erschließung des Gewerbegebiets Ost ist durch den neuen Gemeinderat entscheidend befördert worden.

Wie steht Mildensee heute wirtschaftlich da?

Mildensee ist ein Ortsteil der Stadt Dessau-Roßlau, hat also keinen eigenen Haushalt und ist finanziell abhängig von der Stadt. Das erfordert immer wieder viel Arbeit und auch manche Kämpfe für den Ortschaftsrat, damit wichtige Projekte und Probleme des Ortes nicht übersehen und übergangen werden.

Wird auch heute noch etwas in der Gemeinschaft bewegt, welche Rolle spielt sie noch?

Das Gemeinschaftsgefühl hat sich erhalten und wird weiterhin gepflegt. Es gibt in Mildensee ein reges Vereinsleben (zum Beispiel die Freiwillige Feuerwehr, Sportverein, Männergesangverein, Heimatverein, Nordmanntanzgruppe). Im Jahreslauf gibt es verschiedene Feste, die gemeinsam gestaltet werden (Walpurgisfeuer, Nordmannfest, Adventsmarkt). Zur Gemeinschaft im Ort gehört die evangelische Kirchengemeinde selbstverständlich dazu und hat eine hohe Akzeptanz (unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit).

Wie viel ist von der damaligen Aufbruchsstimmung geblieben, von den Demokratie-Zielen?

Geblieben sind Ortschaftsrat und Ortsbürgermeister – und Menschen, die sich hier ehrenamtlich engagieren. Gemeinsam werden immer wieder auch Probleme bewältigt. So haben sich die Mildenseer 2002 gemeinsam gegen das große Hochwasser gestemmt, um ihren Ort zu retten. Der Sportverein hat nach Schließung der Schule die Sporthalle übernommen und zum Trainings- und Veranstaltungszentrum umgebaut. Dabei gab es im Ort viel Unterstützung, auch durch Spenden. Nicht alle Ziele von damals konnten umgesetzt werden. Aber das Gefühl und die Erfahrung, gemeinsam etwas bewegen zu können, haben sich erhalten. Sie sind ermutigend und immer wieder auch Triebkraft, um sich im Rahmen des Möglichen für den Ort einzusetzen.

Der Text stammt aus unserem Archiv vom Oktober 2015.