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Plenarsitzung

Volk der Komplizen, aber auch stille Helden

Bis zum 23. November 2018 zeigt der Landtag anlässlich des Gedenktags zur Reichspogromnacht (80 Jahre) eine Wanderausstellung, die das Justizsystem zur Zeit des Nationalsozialismus das dem Rechtsstaat in der Demokratie gegenüberstellt. Sie klärt auf und leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Justizgeschichte in Sachsen-Anhalt. Eröffnet wurde sie am Gedenktag zur Reichspogromnacht (1938) am 9. November 2018.

Den Besuchern wird vor Augen geführt, zu welchen Exzessen die Justiz in einem totalitären System fähig sein kann. Im Mittelpunkt steht die Beteiligung der NS-Justiz an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt. Thematisiert wird insbesondere das Vorgehen der Justiz und Verwaltung bei Vorgängen im Rahmen von „Arisierungen“ und sogenannten Rasseschande-Fällen.

Die Bilder und Informationen wirken lassen

Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch wies bei der Eröffnung auf das sich wandelnde Gesicht der Ausstellung hin. Seit ihrer erstmaligen Schau im Jahr 2008 seien zahlreiche Informationstafeln hinzugekommen; 150 seien es mittlerweile, von denen 40 jetzt im Landtag gezeigt werden. „Wir haben uns heute an einem geschichtsträchtigen Tag versammelt, um diese Ausstellung zu eröffnen“, sagte Brakebusch. „Lassen Sie die Bilder und Informationen auf sich einwirken; sie sollen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschehen während des Nationalsozialismus führen.“

Gesetze gegen Grund- und Menschenrechte

Justizministerin Anne-Marie Keding betonte, dass sich die Macht der Nazis durch den damaligen – gleichgeschalteten – Justizapparat habe stabilisieren können. „Mit großer Selbstverständlichkeit sind Gesetze ausgeführt worden, die ganz eindeutig gegen die Grund- und Menschenrechte verstoßen haben“, bedauerte Keding. Viele der verhängten Urteile hätten bereits festgestanden, noch ehe im Grunde die Anklageschrift geschrieben gewesen sei. „Die Opfer und die Täter waren keineswegs anonyme Größen, nein, sie stammten aus der Mitte der Bevölkerung.“ Die Ausstellung widme sich nun der Aufgabe, die Verantwortung des Berufsstandes zu jener Zeit kritisch zu hinterfragen.

Juristen gaben Berufsethos auf

Antisemitismus und Terror hätten sich in der Reichspogromnacht als staatliche Mittel der Machtausübung ihren Weg gebahnt, erinnerte Dr. Kai Langer von der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Die Ausstellung gehe der Frage nach, warum Juristen ihr Berufsethos zum großen Teil so freiwillig aufgegeben und beispielsweise Todesstrafen für marginale Straftaten verhängt hätten. „Die Ausstellung zeichnet den Weg des Justizapparats nach, wenn Demokratie und Freiheit nicht mehr zählen.“

Komplizen der Nazis, aber auch „stille Helden“

Der frühere Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung in Hamburg, Prof. Dr. Ingo Müller, hielt den zentralen Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung im Landtag. „Der 9. November hätte eigentlich ein Nationalfeiertag der Deutschen sein sollen“, sagte er und erinnerte an die Ausrufung der Republik und den Beginn der Demokratie auf deutschem Boden am 9. November 1918 und den Fall der Mauer 71 Jahre später am 9. November 1989.

Stattdessen werde das Datum überschattet vom Hitlerputsch 1923 und die Reichspogromnacht 1938. Insbesondere die von der NSDAP zentral gesteuerte Aktion der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 gilt vielen als letzte überwundene Hürde auf dem Weg der Verfolgung von Juden und anderen missliebigen Menschen hin in die Vernichtung in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis, so Müller. 1 400 zerstörte Synagogen (in Sachsen-Anhalt waren es 16), 1 500 tote Juden, 30 000 verhaftete Juden, die zum großen Teil in die kurz zuvor erweiterten Konzentrationslager deportiert wurden. Und daneben nicht etwa die „schweigende Masse“ der Bevölkerung, sondern das jubelnde, anstachelnde, marodierende und plündernde deutsche Volk, konstatierte Müller.

Lange Zeit habe die Gesellschaft diese jubelnde Menge aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeblendet. „Warum war die Empathie bei den Deutschen so gering?“, fragte Müller. Die Wissenschaft sei sich in diesem Zusammenhang einzig darüber einig, über die Gründe uneinig zu sein. Die Mehrheit des Volkes sei zu Komplizen geworden.

Widerständler waren selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bis weit in die Zeit der neugegründeten Bundesrepublik beziehungsweise der DDR nicht gern gesehen. „Sie passten nicht ins Bild der Selbstentschuldigung, Widerstand sei doch zwecklos und nicht möglich gewesen.“

Doch es habe ihn im Großen wie im Kleinen tausendfach gegeben, konstatierte Ingo Müller: Die „stillen Helden“, wie sie heute genannt werden, weil sie so wenig Aufhebens um ihre guten Taten gemacht hätten – viele seien heute leider vergessen. Sie hätten Juden versteckt und versorgt, zivilen Ungehorsam geleistet, Menschenleben gerettet. „Sie sind das Gegengewicht zu den Komplizen der Nazis – ihre Menschlichkeit ist bis und auch wieder heute ein Zeichen der Hoffnung um das Gute im Menschen.“

Die Ausstellung kann von Montag bis Freitag in der Zeit von 8 bis 18 Uhr kostenfrei im Landtag besucht werden. Voranmeldungen für Gruppen sind unter 0391 560 1258 undprotokoll@lt.sachsen-anhalt.de möglich.