Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Über die Zukunft des Parlamentarismus

In der Johann-Philipp-Becker-Kaserne Dessau trat am 28. Oktober 1990 der Landtag von Sachsen-Anhalt zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Zwei Wochen zuvor waren die 106 Abgeordneten erstmals seit 1946 in freier, gleicher, direkter und geheimer Wahl gewählt worden. 25 Jahre später erinnerte der Landtag von Sachsen-Anhalt gemeinsam mit Vertretern aus Politik und Gesellschaft bei einem Festakt an dieses besondere Ereignis in der jüngeren Geschichte des Landes.

Als zentrale Rednerin sprach Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer vom Lehrstuhl für Regierungslehre und Policyforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der Titel ihrer Rede lautete „Reden, Handeln, Demokratie vermitteln! Zur Zukunft des Landesparlamentarismus“. Als weitere Redner/innen warben Landtagspräsident Detlef Gürth und die Vorsitzenden der vier Landtagsfraktionen für das Land und seine Geschichte. Musikalisch wurde die Festveranstaltung vom „Wencke Wollny Quintett“ umrahmt.

Blick zurück und Blick nach vorn

Im Herbst 1989 sei die Freiheit erkämpft worden, selbst entscheiden zu können, in was für einem Land wir leben wollen, erinnerte Landtagspräsident Detlef Gürth. Freiheit und Demokratie seien nicht selbstverständlich, sie müssten – gerade in diesen Tagen – jeden Tag neu verteidigt werden. Durch den Freiheitskampf von 1989 und 1990 (inklusive der freien Wahl zur letzten DDR-Volkskammer) seien Optionen eröffnet – für die Gewaltenteilung und die parlamentarische Demokratie. Der Weg für die Wiederentstehung Sachsen-Anhalts sei geebnet worden.

Wenige hätten geahnt oder gar gewusst, was auf sie zukommen würde, aber mit bestem Wissen und Gewissen hätten sich die Menschen ohne Masterplan und Rückversicherung an den Aufbau des Landes gewagt. „Ich danke den Frauen und Männern, die dies getan haben, die sich aus ihrem bisherigen Berufsleben herausrissen und diese enorme Verantwortung auf sich nahmen.“

Im Oktober 1990 sei das Fundament für einen funktionierenden Rechtsstaat gelegt worden, mit der Aufstellung der Landesregierung, dem Umbau der Verwaltung, der Etablierung einer unabhängigen Justiz, der Schaffung einer modernen Verfassung und der Bewältigung eines Strukturwandels, der ohne Beispiel war. „Wie oft haben wir nächtelang gesessen und beratschlagt, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder ob es Alternativen gibt, und doch haben wir am nächsten Morgen Entscheidungen getroffen“, sagte Gürth, der nicht nur Mitglied der letzten Volkskammer, sondern seit der ersten Wahlperiode auch Abgeordneter des Landtags von Sachsen-Anhalt ist.

„Wir sind in der Lage, schwere Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Bedingungen kompliziert sind. Wir müssen mutig anpacken, was jetzt fordernd ist: die demokratischen Grundrechte müssen für alle Bürger gesichert werden. Ich lade alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ein, an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv teilzunehmen“, betonte der Landtagspräsident.

Youtube-Video Festveranstaltung am 27.Oktober 2015 im Landtag von Sachsen-Anhalt Youtube

Entscheidende Impulse aus den Landesparlamenten

Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer eröffnete ihre Festrede mit einem Dank an die Abgeordneten der ersten Wahlperiode. Mit Bewunderung und Respekt habe sie die Entwicklung seinerzeit mitverfolgt. Die Abgeordneten hätten viel Verantwortung übernommen und Leistungen vollbracht, die nicht vergessen werden dürften und die Ansporn für alle künftigen Generationen sein sollten.

Seit anderthalb Jahrhunderten würden demokratische Parlamente für unverzichtbar erachtet, erklärte die Politikwissenschaftlerin. Sie zeichneten verantwortlich für die Berücksichtigung der wachsenden Vielfalt der Gesellschaft, für die Wahrung des Gemeinwohls und die Fähigkeit, anstehende Probleme angemessen zu lösen. Nicht allen demokratischen Parlamenten gelinge dies, weder früher noch heute, sodass es an Krisendiagnosen zu keiner Zeit gemangelt habe. Heute werde den Parlamenten sogar bisweilen die Fähigkeit abgesprochen, für die komplizierter gewordene Gesellschaft wichtige Entscheidungen treffen zu können. Seit den 1980er Jahren hätten die Landtage einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen.

Es gebe nach Ansicht Schüttemeyers drei Bereiche, in denen die Landtage heute ganz besonders aktiv sein müssten: Bei der Bewältigung der Auswirkungen der Föderalismusreformen I und II (entscheidende Impulse, die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern neu zu regeln, kamen von den Landtagen), bei der Einstellung auf die Weiterentwicklung der Europäischen Union sowie beim Finden von Antworten auf die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den Akteuren der Politik.

Die enge Kooperation zwischen Bund und Ländern sei hinsichtlich der Gesetzgebung unverzichtbar, erklärte Schüttemeyer. Schwächen zeige das Streben nach Eigenständigkeit bei der Gesetzgebung unter anderem beim Ladenschluss und beim Nichtraucherschutz, deren zum Teil recht unterschiedliche Regelungen auf Unverständnis und Widerstand gestoßen seien.

Die Europäische Integration stelle für die Landtage eine besondere Herausforderung dar. Akteure und Beobachter seien davon überzeugt, dass die Landtage unter der Europäisierung litten, dass gar Gestaltungsmöglichkeiten verlorengegangen seien. Der Vertrag von Lissabon kehre dies zum Teil um, denn er gestatte das Recht, gegen Gesetzentwürfe der EU Einspruch zu erheben, wenn sie dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen. Es bedürfe einer besseren Vernetzung der Landesparlamente hinsichtlich ihrer EU-Aktionen. Die Abgeordneten müssten bei EU-Themen stärker in die Pflicht genommen werden; sie müssen bessere Vermittler zwischen den Bürgern und der EU werden.

Es stehe nicht zum Besten mit dem Vertrauen in Parlament und Abgeordnete, monierte Schüttemeyer, zufrieden mit dem Funktionieren der parlamentarischen Demokratie seien nur 27 Prozent der Menschen in Deutschland. Hier biete sich die Gelegenheit, dass die Vertreter der Stadtparlamente, der Kreistage und des Landtags ihre Kenntnisse und Erfahrungen demonstrierten und die landesweite Vernetzung der Menschen voranbrächten.

Schüttemeyer bezeichnete die Parlamente als Kernstücke der Demokratie, ihnen komme vor allem die Kontrolle der Arbeit der Landesregierung zu. Entscheidend sei, dass die Abgeordneten ambitioniert und initiativ arbeiteten. Landtage sollten sich jedoch nicht auf das Terrain begeben, über Dinge zu reden, über die sie nichts zu sagen hätten, erklärte die Politikwissenschaftlerin. Deswegen müssten sie sich aber nicht auf ihre limitierten Gesetzgebungskompetenzen beschränken, sondern verstärkt auf ihre Kontrolltätigkeit bauen. Es bedarf ferner Menschen, die sich als Abgeordnete in den Landtag wählen ließen und Politik mitgestalteten. Nur so könne gezeigt werden, dass Parlamentarismus und Demokratie ohne Alternative seien.

Wirkliche Wiedergeburt im Jahr 1990

Es sei 1990 tatsächlich eine Wiedergeburt des Landes Sachsen-Anhalt gewesen, nachdem dem freiheitlich-demokratischen Parlamentarismus im NS-Staat und in der DDR kein Platz eingeräumt worden sei, erklärte André Schröder, Vorsitzender der CDU-Fraktion. Parlamentsarbeit bedeute vor allem, Verantwortung zu übernehmen. Daher gelte Schröders Dank und Respekt all jenen, die an der Wiedergeburt des Landes mitgearbeitet und im „parlamentarischen Maschinenraum“ gewirkt hätten.

Das Land habe eigene Wege beschritten und seinen Platz im föderalen System der Bundesrepublik eingenommen. „Erst das Parlament, dann die Regierung, heißt es“, so Schröder, denn hier fielen die Entscheidungen: die Wahl des Regierungschefs, die Gestaltung des Haushalts und vieles mehr. Handlungsfähiges Regieren sei ohne Parlament nicht möglich, so der CDU-Politiker.

Seiner Ansicht nach sei und bleibe der Landtag ein wichtiges und zentrales Verfassungsorgan des Landes. Nicht zuletzt deshalb, weil er eine Brückenfunktion mit der EU, mit dem Bund, aber auch mit den Kommunen übernehme. Auf die Entwicklungen im Land könne man stolz sein.

Entfremdung von Demokratie entgegenwirken

Sachsen-Anhalt habe es trotz seiner sehr komplizierten politischen Ausgangsposition geschafft, für Akzeptanz des Landes in der Bevölkerung zu sorgen, freute sich Wulf Gallert, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. Der Landtag sei das Kern- und Herzstück der parlamentarischen Demokratie in Sachsen-Anhalt, dieses Selbstbewusstsein sollten alle Abgeordneten jeden Tag des Jahres stolz demonstrieren.

Besondere Herausforderungen böten sich dem Landesparlament hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Gallert regte an, die Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Landesregierung zu überdenken. Er zeigte sich enttäuscht über die doch geringe Wahlbeteiligung, 50 Prozent der Menschen entschieden sich bewusst dafür, nicht zur Wahl zu gehen. Dies bedeute eine Entfremdung von der Demokratie, und diese Menschen seien anfällig für politische Extreme.

Gallert erklärte, es gebe einen deutlichen Zusammenhang zwischen Einkommen, Bildung und politischer Partizipation. Seien die ersten beiden höher, stiege auch das Bewusstsein für die politische Teilhabe. Immer mehr führten wirtschaftliche Interessen zur Selbstentmachtung von Politik. Es müsse gelingen, das Vertrauen in die Gestaltungsmacht von Parlamenten wiederherzustellen, so Wulf Gallert. Die Politik müsse beweisen, dass sie den Willen habe, die sozialen Fragen zu beantworten.

Parlament heißt immer Debatte

Die Wiedergründung Sachsen-Anhalts sei ein wichtiger Tag für unser Land, für die ganze neue Bundesrepublik, erklärte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Reinhard Höppner am 28. Oktober 1990. Die SPD-Fraktionsvorsitzende von heute, Katrin Budde, erinnerte an diesen Ausspruch, der den Start des Landes treffend dargestellt habe.

1989/1990 war der Startpunkt, um in Freiheit aufzuwachsen und viele neue Chancen zu nutzen. Dennoch sei nicht zu ignorieren, dass viele Menschen ihre Arbeit, den Lebensinhalt, ihre gesellschaftliche Stellung und den Lebensmut verloren. Nicht wenige hätten heute Zukunftsängste, fühlten sich ohnmächtig, seien unzufrieden und gingen nicht mehr wählen. Das gefährde die Demokratie an sich, so Budde. Bildung sei es aber nicht mehr allein, die diese Entfremdung aufhebe. Die große Zahl an Flüchtlingen sei eine unerwartete Situation, die uns vor große Herausforderungen stelle, so Budde. Jetzt müsse man Respekt vor den Aufgaben haben und den Menschen die Angst nehmen, statt sie zu schüren.

„Niemand hat uns damals versprochen, dass Demokratie leicht sei“, erinnerte sich Katrin Budde. Man dürfe keine Angst vor einer Aufgabe und vor Entscheidungen haben und brauche Mut zur Entscheidung. Budde wies auf die besondere Bedeutung des Parlaments hin, es sei nicht nur das lästige Anhängsel der Landesregierung. Es seien „spannende, gute Jahre“ für Sachsen-Anhalt gewesen.

Herausforderungen gemeinsam meistern

Prof. Dr. Claudia Dalbert, Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, blickte auf 25 Jahre Sachsen-Anhalt aus Sicht der Grünen zurück. Sie erinnerte an den ersten grünen Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Tschiche und an das „grüne Gewissen des Landes“ Heidrun Heidecke, erste grüne Ministerin Ostdeutschlands in der Regierung Höppner. Vieles, was sich positiv auf die Entwicklung des Landes ausgewirkt habe, trage eine grüne Handschrift.

Dalbert zeigte sich davon überzeugt, dass das Land den ankommenden Flüchtlingen und Asylsuchenden Schutz bieten und ein dauerhaftes neues Zuhause schaffen könne, ein schneller Zugang zu Bildung und Ausbildung sei notwendig. „Das wird Geld und Zeit und Personal brauchen, und keiner sagt, dass es einfach wird“, so Dalbert, aber unsere Krise bestehe im Grunde nur aus der schlechten Vorbereitung auf diese Situation. Europa funktioniere nur, wenn alle Mitgliedstaaten Verantwortung übernähmen. „In unserer Demokratie ist kein Platz für Hetze und Gewalt! Lassen Sie uns auch diese Herausforderung gemeinsam meistern.“