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Plenarsitzung

Transkript

Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In Berlin hat am Montag die zuständige Bildungssenatorin die Präsenzpflicht an Schulen bei Beibehaltung des Präsenzunterrichts als Regelunterricht temporär bis Ende Februar ausgesetzt. In der Begründung der Senatsverwaltung wird ausgeführt, dass besonders die steigenden Infektionszahlen unter Schülerinnen und Schülern sowie das geänderte Quarantäne-Management für Schulkinder zu dieser Entscheidung geführt haben.

Neben dem dringenden Anliegen normalen Schulunterricht in Präsenz anzubieten und Schulen   anders als in der ersten Pandemiewelle   offen zu halten, nehme man auch die Sorgen und Anliegen derjenigen Familien ernst, die den Infektionsschutz an den Schulen für nicht ausreichend halten und die ihre Kinder zu Hause betreuen möchten. In Berlin kündigte man an, dass die Schulen den entsprechenden Schülerinnen und Familien Lernangebote unterbreiten werden.

Nun hat uns in Sachsen-Anhalt zum Glück die aktuelle Omikron-Welle der Pandemie noch nicht voll erwischt. Ansonsten aber unterscheidet uns an dieser Stelle wenig von Berlin. Auch hier werden Schülerinnen und Schüler einer Klasse nicht mehr als Kontaktperson in Quarantäne geschickt, wenn es einen Infektionsfall im Klassenraum gab. Auch hier sorgen sich viele Eltern und Familien, nicht nur diejenigen mit erhöhtem Infektionsrisiko, dass dieser Strategiewechsel unweigerlich zu einer Durchseuchung an den Schulen führen kann. Denn die Infektionsschutzmaßnahmen an unseren Schulen reichen bei Weitem nicht aus, um diese bei der hochansteckenden Variante wie Omikron zu verhindern.

Und auch hierzulande sind viele Eltern nicht dazu bereit, ihre Kinder und die Schülerinnen sowie sich selbst dem auszusetzen. Sie verstehen nicht, warum sie dazu gezwungen werden sollen. Der Unterschied ist, hierzulande ist das Bildungsministerium nicht bereit, diese Familien und Schülerinnen ernst zu nehmen.

In einem Bundesland, in dem immer wieder betont wird, man müsse die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen anhören und ernstnehmen, gilt das ganz offensichtlich nicht für die Sorgen derjenigen, die in einer Pandemie sinnvollerweise auf Vorsicht setzen.

Nicht für diejenigen, die die Durchseuchung für den falschen Weg halten. Nicht für diejenigen, die ihre Kinder suffizient vor Ansteckung schützen wollen. Und nicht für die besondere Situation von sogenannten Schattenfamilien. Das sind Haushalte, in denen eine oder mehrere Personen leben, die ein hohes Risiko für einen schweren Coronaverlauf haben.

Seit Beginn der Pandemie sind viele dieser Familien gezwungen, in völliger Isolation zu leben. Ihre Sorgen werden meist ignoriert oder nicht gehört. Sie werden mit diesem Lebensumstand komplett im Stich gelassen und sind in Sachsen-Anhalt zusätzlich gezwungen, ihre Kinder täglich in die Schule zu schicken.

Schülerinnen, nicht nur aus diesen Familien, müssen in Sachsen-Anhalt jeden Morgen mit der Angst vor einer Infektion zur Schule gehen. Sie machen sich Gedanken darum, ob sie das Virus in ihre Familien tragen und ggf. ihre Geschwister, Eltern oder die Großeltern anstecken.

Man kann sich kaum vorstellen, wie groß der emotionale Druck für diese jungen Menschen ist. Der Ausweg, den die Ministerin im letzten Ausschuss für Bildung für diese Familien skizzierte, die Krankschreibung der Kinder durch den Hausarzt der Familie, sollte wohl besser nicht als Handlungsaufforderung verstanden werden - wenn ein Kind selbst nicht wirklich krank ist und es oft vor allem um den Schutz der Familie geht.

Es ist wichtig und legitim, sich mit den Ängsten von Eltern zu befassen, die Schäden durch das Maskentragen befürchten oder das tägliche Testen als Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit betrachten. Selbst dann, wenn man diese Ängste durchaus für unbegründet halten kann.

Aber mindestens genauso wichtig in einer weltweiten Pandemie ist, erst recht in ihrer bisher größten Ausprägung, das Gehör für diejenigen zu haben, die zur Vorsicht mahnen oder das Recht auf Vorsicht für sich selbst und ihre Kinder einfordern.

Das tun im Übrigen ja nicht nur viele Familien in unserem Land oder wir GRÜNE, sondern auch der Landesschülerrat und Landeselternrat vertreten diese Position. Bitte nehmen Sie diese Interessensvertreterinnen auch endlich ernst

Die Gründe, die für die Beibehaltung des Präsenzunterrichtes sprechen, sind gewichtig. Wir alle haben erlebt, dass Schulschließungen zu einer Vergrößerung von Bildungsungleichheit geführt haben, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr mitkamen. Wir wenden jetzt viel Geld und Energie auf, um Lernrückstände zu beseitigen - übrigens nicht nur wir als Land, sondern auch viele von uns als Eltern.

Wir haben erlebt, dass es zu großer sozialer und seelischer Belastung geführt hat, dass der Lebensort, der Begegnungsort, der Ausprobierort Schule wegfiel. Es wird lange dauern, die dadurch entstandenen Schäden vollständig zu erfassen. Deshalb sind die Nichtteilnahme am Unterricht und die Auslagerung der Entscheidung darüber in die Elternhäuser eine schlechte Lösung. Aber wir befinden uns in einer Pandemie mit für uns bisher ungeahnter Dimension. Im Moment gibt es   n u r   schlechte Lösungen. Von allen schlechten Lösungen ist die am wenigsten schlechte Lösung, dass Familien die Verantwortung für ihren Gesundheitsschutz und den ihrer Kinder selbst abwägen und selbst entscheiden können.

Dass für viele Familien Schulen eben nicht als pandemiesicherer Ort erscheinen, liegt einerseits an den offensichtlichen und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sehr deutlich höheren Infektionszahlen bei Schülerinnen und Schülern; andererseits liegt es an dem Erlebnis, dass Infektionsschutz an den Schulen in Sachsen-Anhalt keine große Priorität zu haben scheint. Das stellt sich eher als Drama bzw. als eine Tragödie in drei Akten dar.

Erstens: die Voraussetzung. Hier gab es ein Luftfilterförderprogramm, welches eher schlecht als recht lief. Die Erfassung der Anzahl der Klassenräume, die dringend Luftfilter benötigen, hätte in den Sommerferien erfolgen können. Dafür wären sechs Wochen Zeit gewesen. Stattdessen wurde, warum auch immer, der Schulstart zur Erfassung abgewartet. Offenbar hatten praktische Überlegungen Priorität, aber eben nicht der Infektionsschutz. Dadurch hat es ewig gedauert, bis das Förderprogramm überhaupt in die richtigen Bahnen gelenkt war.

Immer noch sind sehr wenige Schulen in Sachsen-Anhalt mit Luftfiltern ausgestattet. Für unsere Bildungsministerin scheint das kein besonders wichtiges Problem zu sein, wenn man ihren Worten in der letzten Sitzung des Bildungsausschusses Glauben schenken mag. Dort betonte sie, dass es ihrer Ansicht nach keinen Unterschied für das Infektionsrisiko in Klassenräumen macht, ob diese mit Luftfiltern ausgestattet werden oder nicht - die Erfolgsstrategie sei Lüften. Sie wissen, dass für effektives Lüften eine Durchzugssituation notwendig ist. Besonders im Winter braucht es kein besonders großes Einfühlungsvermögen, um sich vorzustellen, dass das für die Kinder eine große Zumutung bedeutet.

Das insuffiziente Pandemiemanagement hatte damit kein Ende. Es folgte der zweite Akt der Tragödie   der Höhepunkt  : Das Ringen um das Aussetzen der Präsenzpflicht an den Schulen. Wir erinnern uns alle an die Situation vor den Weihnachtsferien. Da hieß es in der damaligen 15. Eindämmungsverordnung: An allen Schulen findet der Präsenzunterricht unter Befreiung der Präsenzpflicht statt. Das hat das Bildungsministerium per Erlass durch den Schulleiterbrief dann eingeschränkt. Die Eltern sollten das Wegbleiben der Kinder schriftlich nachvollziehbar durch Belange des Infektionsschutzes begründen. Manche Schulen waren so verwirrt, dass sie ärztliche Atteste einforderten. Die Handlungen des Bildungsministeriums widersprachen dabei der Eindämmungsverordnung und waren somit rechtswidrig - dies bestätigte sogar der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst in einem Gutachten. Doch selbst dieses Gutachten brachte die Ministerin nicht zur Einsicht. Lediglich die Eingrenzung, dass die Befreiung durch Belange des Infektionsschutzes begründet werden muss, wurde auf der Website gestrichen. Ein entsprechender Hinweis an Schulen und Eltern zur tatsächlichen Verordnungslage blieb aus.

Diese mangelnde Einsicht im Ministerium zeigt sich auch nach den Weihnachtsferien. Die Entscheidung zur Wiedereinführung der Präsenzpflicht, ohne dass sich die Pandemielage inzwischen nachvollziehbar gebessert hätte   eher steht mit der hochansteckenden Omikron-Variante eine erneut deutliche Erhöhung der Infektionszahlen bevor  , ist grob fahrlässig.

Das führt uns zum letzten Akt dieser Tragödie: der Katastrophe. Denn die Entscheidung zur Wiedereinführung der Präsenzpflicht an unseren Schulen lässt vor allem eines vermuten: Die Durchseuchung ist das übergeordnete Ziel des Bildungsministeriums. Anders lässt sich nicht erklären, dass man trotz rasant steigender Infektionszahlen alle Schülerinnen und Schüler wieder zurück in den Präsenzunterricht zwingt, ohne ihnen und ihren Familien die Entscheidung zur Risikoabwägung zu überlassen.

Die nun für die Schulen möglichen Änderungen von Beschulungsformen bei erhöhtem Pandemiegeschehen ändern wenig. Sie sind vor allem eine Reaktion auf technisches Nichtmöglichsein von Präsenzunterricht, Störungen im Betriebsablauf. Sie zeigen keinen Anhaltspunkt für Infektionsprävention. Die Zahlen, die als Grenzwerte festgelegt wurden und als mögliche Anhaltspunkte dienen, sprechen für eine sehr hohe Durchseuchung an den jeweiligen Schulen.

Mit unserem Antrag möchten wir auf Sie zukommen. Wir zeigen einen Ausweg auf, um diese Katastrophe zu verhindern und noch ein gutes - oder zumindest ein weniger schlechtes - Ende zu finden. Der erste und wichtigste Schritt dafür ist es, die Präsenzpflicht an den Schulen in Sachsen-Anhalt bis mindestens zu den Winterferien wieder auszusetzen. In den Winterferien kann man dann die Coronasituation wieder neu bewerten und die Entscheidung, wie es dann weitergeht, frühzeitig an die Schulen kommunizieren. Damit haben diese genug Zeit, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Ein Aussetzen der Präsenzpflicht   das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen   bedeutet kein Aussetzen der Schulpflicht   das wäre absurd   und muss auch nicht das Wegbrechen des Kontaktes zur Schule bedeuten. Stattdessen müssen Konzepte entwickelt werden, die die Einhaltung der Schulpflicht   auch ohne physische Präsenzpflicht   ermöglichen. Schulen sind dazu in der Lage. Wir fangen nicht bei null an. Wir   vor allem die Schulen, die Lehrerinnen und Schülerinnen, die Familien   haben während der Schulschließungen schon Erfahrungen damit gemacht, was funktionieren kann. Darauf können wir aufbauen.

Es gibt Fachleute, die solche Konzepte entwickelt und öffentlich gemacht haben, z. B. das Konzept zur Sicherstellung des Schulbetriebes unter Pandemiebedingungen von einem interdisziplinären bundesweiten Zusammenschluss aus Expertinnen und Experten. Dieses Konzept ist auch bei uns im Bildungsministerium angekommen; das hat die Bildungsministerin bestätigt. Darauf kann man aufbauen. Daraus kann man eigene Planungen machen und die Situation an den Schulen verbessern.

Ich möchte mir an dieser Stelle nicht anmaßen, Ihnen vorzuschreiben, wie Sie das machen. Aber ganz sicher lassen sich Dinge aus der Theorie nicht eins zu eins in die Realität   erst recht nicht in die Realität von Sachsen-Anhalt   übertragen. Die dahinterliegende Idee   in einer Ausnahmesituation wie der Pandemie   fachübergreifend, alle Herausforderungen zu betrachten, nämlich das Recht auf Bildung, die Schulpflicht, der Gesundheitsschutz und dafür Lösungen zu entwickeln, halte ich für einen notwendigen Ansatz. Ich würde mich freuen, wenn Sie deshalb unserem Antrag zustimmen.

(Zustimmung)