Petra Grimm-Benne (Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Dass die Diskussion über die §§ 218 ff. StGB aktuell wieder an Fahrt aufgenommen hat, liegt - wie wir bereits eben gehört haben - an zwei jüngst veröffentlichten Untersuchungen: erstens an Auszügen aus der sogenannten ELSA-Studie sowie zweitens dem Abschlussbericht der von der Bundesregierung eingesetzten Reformkommission.
Hinter dem Projekt „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“ - kurz: ELSA - verbirgt sich ein multidisziplinärer Forschungsverbund mit mehr als 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von sechs Hochschulen und Universitäten, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren die Lebenslagen und Bedürfnisse ungewollt Schwangerer, ihre Unterstützung und Versorgungsbedarfe sowie die Versorgungsstrukturen hierzulande untersucht haben.
Ziel des Projektes ist es, Schlussfolgerungen für die Verbesserung der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung ungewollt schwangerer Frauen auf der Basis wissenschaftlich-empirischer Erkenntnisse abzuleiten. Für Deutschland gibt es bislang keine vergleichbar umfassende und fundierte Studie.
Der Gesamtbericht der ELSA-Studie einschließlich Handlungsempfehlungen soll im Herbst vorliegen. Aufgrund der hohen Relevanz stellte das Projekt bereits jetzt ausgewählte Ergebnisse zur Verfügung. So unterstreicht die ELSA-Studie, dass Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch auf viele Barrieren stoßen. Das betrifft den Zugang zu Informationen, die Übernahme der Kosten für den Eingriff, aber insbesondere auch den Zugang zum Versorgungsangebot. Die Versorgung unterscheidet sich regional erheblich und reicht von umfassender Bedarfsdeckung bis hin zur Unterversorgung in einigen Regionen.
Meine Damen und Herren Abgeordneten! Nach § 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes obliegt es den Ländern, eine ausreichende medizinische Versorgung im Schwangerschaftskonflikt herzustellen. Da in Sachsen-Anhalt die Genehmigung zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen für ambulante Frauenarztpraxen gemeldet werden, ist die Zahl der Anbieter anders als in einigen anderen Bundesländern bekannt.
Für unser Bundesland bestätigt die ELSA-Studie insgesamt eine gute Versorgung. Gemessen wurden die Faktoren „Anbieterdichte“, „Arbeitsbelastung des Anbieters“ und die räumliche Zugänglichkeit für die Frauen, d. h., die geografische Verteilung. - Sie haben es vorhin schon gesagt: Es sind bis zu 40 km Entfernung.
Dass das Land Sachsen-Anhalt in dieser Studie so gut abschneidet, ist erst einmal eine gute Botschaft. Sicher ist aber auch, dass diese Momentaufnahme uns nicht ruhen lassen darf. Auch bei uns wird sich das Fehlen von medizinischem Fachpersonal bemerkbar machen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Mit Blick auf den bundesweiten Mangel an Fachärztinnen und Fachärzten hat sich Sachsen-Anhalt zuletzt am Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz im Januar dieses Jahres beteiligt und sich gegenüber der Bundesregierung für eine Verbesserung der Datenlage, für eine Verbesserung der Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten insbesondere zu rechtlichen Aspekten sowie für einen verbesserten Schutz vor sogenannten Gehsteigbelästigungen vor Praxen ausgesprochen.
Die Bundesregierung hat im Jahr 2023 - Sie haben es schon erwähnt - die unabhängige Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingesetzt. Diese hat am 15. April 2024 ihren Abschlussbericht vorgestellt.
Die Kommission kommt zu dem einstimmigen Ergebnis, dass die grundsätzliche Rechtswidrigkeit der Abtreibung in der frühen Schwangerschaft einer verfassungs-, völker- und europarechtlichen Überprüfung nicht standhält. So komme den Grundrechten der Schwangeren gerade in der Frühphase der Schwangerschaft in Abwägung zum Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus ein starkes Gewicht zu.
Die Expertenkommission empfahl daher einstimmig, eine Abtreibung in der Frühphase der Schwangerschaft, d. h., in den ersten zwölf Wochen, zu legalisieren. Eine Verortung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts würde nicht nur die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Schwangeren stärken, sondern vor allem auch die Stigmatisierung beenden, unter denen ungewollt Schwangere bisher besonders leiden, wie die ELSA-Studie kritisiert.
Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Frage, ob man sich für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, ist eine der existenziellsten Entscheidungen, die eine Frau überhaupt treffen kann.
(Zustimmung bei der SPD)
Ihr geht ein persönlicher und oft schwieriger Entscheidungsprozess voraus, den es zu respektieren gilt. Wie immer die individuelle Entscheidung dabei ausfällt, ob für oder gegen einen Abbruch - sie muss selbstbestimmt und unter menschenwürdigen Bedingungen getroffen werden können. Keine der betroffenen Frauen macht sich diese Entscheidung auch nur ansatzweise leicht. Das zu unterstellen und das zu vermuten, wird den Frauen nicht gerecht und zeugt von einem mehr als fragwürdigen Frauenbild.
Ungewollt Schwangere brauchen keine Bevormundung, sondern eine qualitativ hochwertige Beratung und sachliche Informationen, die ihnen schnellstmöglich zur Verfügung gestellt werden.
Meine Damen und Herren Abgeordneten! Diverse aktuelle repräsentative Umfragen unterstreichen, dass eine breite Mehrheit der Bevölkerung, und zwar mehr als 75 %, ebenfalls der Ansicht ist, dass Abbrüche künftig eher nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden sollten. Von einer unverantwortlichen Spaltung der Bevölkerung im Falle der Neuregelung kann also kaum die Rede sein.
Ungewollte Schwangerschaften kommen überall vor, unabhängig vom Land, vom sozialen Status und davon, ob es legal ist, abzutreiben. Abtreibungen zu kriminalisieren, verhindert sie nicht. Vielmehr haben gesellschaftliche Rollenerwartungen, Gewalterfahrungen, Bildungszusammenhänge sowie der Zugang zu sexualpädagogischen Angeboten und Verhütungsmitteln entscheidenden Einfluss auf das Entstehen ungeplanter und/oder ungewollter Schwangerschaften und damit auch auf die Entscheidung für oder gegen das Austragen des Kindes.
Deshalb müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die es Schwangeren ermöglichen oder zumindest etwas leichter machen, sich für das Austragen ihres ungeborenen Kindes zu entscheiden. Hierzu gehören die verfügbare und zuverlässige Kinderbetreuung ebenso wie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem die soziale Sicherung. Nicht zuletzt brauchen wir ein kinder- und familienfreundliches Gesellschaftsklima, in dem es nicht erst eine Entscheidung des Bundessozialgerichts braucht, um festzustellen, dass Kinderlärm sozial adäquat ist. - Herzlichen Dank fürs Zuhören.
(Beifall bei der SPD)