Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Transkript

Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! „Nie wieder“ ist jetzt. Jetzt muss sich beweisen, dass Sonntagsreden, die an Feiertagen gehalten werden, an Arbeitstagen Bestand haben.

Denn was müssen wir seit dem 7. Oktober 2023, seit dem brutalen Angriff der Terrorarmee der Hamas auf den jüdischen Staat Israel erleben? - Seit dem Holocaust sind noch nie so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet worden wie an diesem 7. Oktober. Das ist eine Zäsur ohnegleichen. Dieser Angriff ist unzweifelhaft und glasklar zu verurteilen. Dafür gibt es weder Entschuldigung noch Begründung.

Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson - oft gesagt. Aber was meint das konkret? „Staatsräson“ heißt vereinfacht: oberste wertmäßige Priorität ohne Wenn und Aber. Es ist eine Gewichtung, die vor dem nicht endenden Erschrecken und der tiefen Erschütterung über den Holocaust entstanden ist. Dieses beispiellose und nie zu relativierende barbarische Verbrechen ist in Deutschland und von Deutschen erdacht, geplant und durchgeführt worden. Daraus erwächst eine immerwährende Verpflichtung, Jüdinnen und Juden immer und überall zu schützen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Existenzrecht Israels ist Teil dieser Verpflichtung genauso wie der Schutz jüdischer Menschen und jüdischer Einrichtungen hier bei uns in Deutschland und auch hier in Sachsen-Anhalt.

Israel hat jedes Recht auf Selbstverteidigung. Israel ist auf brutalste Art und Weise angegriffen worden. Und Israel muss dafür kämpfen, dass dieser Horror nie, nie wieder passiert.

Die Hamas will keinen Frieden. Die Hamas sagt sehr klar, dass Sie auch nicht verhandeln will. Die Hamas ist eine mordende Terrorgruppe, die nicht nur Israelis, sondern auch ihre eigene Bevölkerung in Geiselhaft genommen hat.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Hamas will Israel von der Landkarte ausradieren. Und weil Konflikt zu ihrer inneren Identität gehört, hat sie wohl sehr bewusst zu einem Zeitpunkt zugeschlagen, zu dem es gerade zarte Pflänzchen gibt, über Wirtschaftsprojekte bis hin zu Jugendaustausch innerhalb des Nahen Ostens positive Annäherung zwischen Israel und arabischen Staaten wachsen zu lassen.

Mir ist wichtig, zu sagen: Man kann und muss unverrückbar an der Seite Israels stehen und gleichzeitig das Leid der Bevölkerung auch im Gazastreifen sehen und benennen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Von Israel die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einzufordern, ist eine Frage der Gerechtigkeit und ist wichtig, um auch in einer Zeit nach der bewaffneten Auseinandersetzung, nach dem Krieg wieder ein Miteinander aufbauen zu können.

Sehr geehrte Damen und Herren! Am heutigen 9. November 2023 nährt sich die Reichspogromnacht zum 85. Mal. Diese Nacht markiert den Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums. Der 9. November ist für mich ein Tag der inneren und äußeren Erschütterung, der mir sehr klar macht, der wo meine und unsere Verantwortung liegt.

Wenden wir uns nun dieser konkreten Verantwortung hier in unserer Heimat zu; denn auch hier - das ist mir wichtig zu sagen - und längst nicht erst seit diesem 7. Oktober nimmt der Antisemitismus immer stärker zu. Im Jahr 2019, direkt nach dem Halle-Attentat, gab es eine große Welle der Sympathie und Solidarität. Die Betroffenheit war spontan und echt.

Doch, was passierte danach? Was passierte nach den Selfies? Was ist auf Dauer angelegt? Wo haben wir unser Verhalten tatsächlich verändert? Seit Jahren bin ich mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden im Land, insbesondere natürlich in meiner Heimatstadt Dessau-Roßlau, in regelmäßigem Austausch. Es ist erschütternd, wie sich deren Leben eben nicht erst seit dem extremen Hamas-Terror wieder negativ entwickelt.

Es ist schier unerträglich, wenn Jüdinnen und Juden aus Angst ihre Sternenkette nicht mehr tragen, wenn sie nicht mit der Kippa aus dem Haus gehen, weil sie Angst vor Gewalt haben. Es ist unfassbar, wenn in Deutschland wieder Häuser mit Judensternen, mit Hakenkreuzen gekennzeichnet werden. Es macht mich tieftraurig, dass sich jüdische Menschen nicht in ihre neuen wunderbaren Synagogen trauen.

Vor knapp vier Wochen erst durfte ich an der wirklich beeindruckenden Einweihungsfeier in Dessau-Roßlau teilnehmen. Diese Synagoge ist nicht nur ein wirklich schöner Bau, es ist nicht nur ein wichtiges Gotteshaus, sondern es ist ein deutliches Zeichen, dass jüdisches Leben in unserer Mitte, in der Mitte der Gesellschaft, stattfindet.

Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich es noch erleben muss, dass Menschen offenbar sehr bewusst in KZ-Gedenkstätten gehen, um dort den Holocaust zu leugnen, dass sich Hakenkreuze an immer mehr Gebäuden finden und Gedenktafeln mutwillig zerstört werden; immer öfter. All das berichtet die Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten. Und diese Umkehr der Geschichte dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Land Sachsen-Anhalt hat im Oktober 2020, ein Jahr nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle, mit dem Landesprogramm „Jüdisches Leben stärken - Sachsen-Anhalt gegen Antisemitismus“ reagiert. Das ist drei Jahre her, der Zwischenbericht zwei Jahre.

Wir brauchen aber jetzt tatsächlich eine aktuelle, ehrliche und offene Bilanz über Erfolge, Misserfolge, vor allem aber auch über Schlussfolgerungen; was tun wir jetzt. Das muss transparent erfolgen.

Es gibt Bereiche in unserem Land, bspw. die Polizei, in denen Einiges auf einem sehr mutmachenden Weg zu sein scheint. In anderen Bereichen, bspw. der Bereich der politischen Bildung, sehe ich noch Ausbaunotwendigkeiten.

Auch müssen wir uns ehrlich fragen, ob wir immer die angemessene Sprache und die angemessenen Methoden finden, mit denen wir es schaffen, Menschen außerhalb einer demokratisch vorgeprägten Bubble zu erreichen.

Wir müssen uns in der Mitte der politischen Gesellschaft fragen: Wo haben wir versagt, dass rechtsextreme Narrative bei uns in Sachsen-Anhalt wieder en vogue sind? Wo haben wir versagt, dass es offensichtlich möglich ist, dass Rechtsextreme wieder in deutsche Parlamente gewählt werden?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Unsere Aufgabe hier in Sachsen-Anhalt ist, unseren jüdischen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern sehr deutlich zu zeigen: Wir schützen Sie, wir stehen an Ihrer Seite und wir werden alles tun, um Ihnen ein freies Leben und freie Religionsausübung zu ermöglichen. Die Religionsfreiheit gilt in Deutschland für alle Religionen, solange sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen.

(Zuruf von der AfD)

Alles andere können und werden wir nicht dulden. Das sage ich auch ausdrücklich mit Blick auf Ausschreitungen am Rande von muslimischen Aktionen oder propalästinensischen Demonstrationen. Der Hass darf nicht weiter Wurzeln schlagen; das werden wir nicht dulden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es blutet mir das Herz, dass die schönen neuen Synagogen, die ein Zeichen des Ankommens und des Bleibens sind, nun noch stärker geschützt und mit Zugangsbeschränkungen versehen werden müssen. Wenn das mehr Geld kostet, dann schützen wir damit nicht nur jüdisches Leben in Deutschland, sondern wir investieren in die Form des Lebens, die hier in Deutschland mehrheitlich gewollt ist.

Der beste Schutz ist Prävention. Deshalb müssen wir Schulsozialarbeit, Jugendbildung und politische Bildung verstärken. Historische Aufarbeitung ist zu einer Frage der inneren Sicherheit geworden. Wir brauchen dringend mehr politische Bildung. Jetzt, wo Zeitzeugen des Naziregimes immer weniger werden, braucht es dringend mehr organisierte politische Bildung,

(Beifall bei den GRÜNEN)

mehr Begegnungen mit Jüdinnen und Juden, mehr Besuche in KZ-Gedenkstätten. Ich finde es gut, wenn Schülerinnen und Schüler regelhaft eine KZ-Gedenkstätte besuchen und so mehr über die negativen und unfassbaren Seiten der deutschen Vergangenheit erfahren. Auch das darf nicht an Geld- oder am Lehrermangel scheitern.

Das Budget der Landeszentrale für politische Bildung - seit Jahren eher sinkend. „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ hat nicht genug Mittel, um all das zu tun, was im Land erfreulicherweise gewünscht wird.

Seit dem Start des Schulnetzwerkes in Sachsen-Anhalt erhält die Landeszentrale zur Koordination Mittel in gleicher Höhe zur Betreuung der Courage-Schulen: 150 000 €, und das, obwohl die Anzahl der Courage-Schulen sich in Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren massiv gesteigert hat. Wir haben mittlerweile mehr als 170 Schulen, die Teil dieses Netzwerks sind - ein riesiger Erfolg.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Die Landeskoordination und die Regelkoordination des Schulnetzwerkes haben dadurch mehr Aufgaben, verfügen aber über die gleichen, wenigen finanziellen Mittel und Personalstellen.

Unser Anspruch muss es sein, schulisches Leben mit Courage, gegen Rassismus, Antisemitismus, Hass und Hetze aktiv und auch mit Geld zu befördern. Unsere Aufgabe als Landespolitik ist der praktische Schutz jüdischen Lebens in Sachsen-Anhalt, die politische Bildung, insbesondere über den Holocaust, die Ermöglichung von Gedenkstättenarbeit und Besuchen von Erinnerungsorten und die konsequente Verfolgung und Ahndung sowohl von Antisemitismus als auch aller anderen Formen von Hass und Hetze.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, warnte vor mehr als 80 Jahren Bertolt Brecht. Wir Demokratinnen und Demokraten müssen uns fragen, ob wir diese Warnung immer ernst genug genommen haben. Der Kampf um Demokratie, gegen Antisemitismus und Rassismus endet nie. Dieser Kampf und damit auch der, gegen jegliche Bestrebungen der Relativierung anzugehen, auch das gehört praktisch zur deutschen Staatsräson.

Nie wieder ist jetzt. Jetzt muss sich beweisen, dass Sonntagsreden, die an Feiertagen gehalten werden, an Arbeitstagen Bestand haben. Wie häufig sind die Hashtags „#niewieder“, „#keinvergessen“, „#weremember“ oder Ähnliches unter Posts geschrieben oder in Grußworten verwendet worden. In diesen Tagen muss sich beweisen, dass das keine leeren Worte sind. - Ich danke allen, die meinen Gedanken gefolgt sind.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN und bei der SPD)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Es gibt zwei Interventionen. Die erste von Herrn Stehli. - Herr Stehli, Sie haben das Wort. Bitte sehr.


Stephen Gerhard Stehli (CDU): 

Danke schön. - Frau Kollegin Lüddemann, ich stimme natürlich vielen Ihrer grundsätzlichen Erwägungen zu, selbstverständlich. Vieles ist absolut klar. Sie haben in Ihrer Rede zweimal den Begriff „Staatsräson“ verwendet. Vielleicht können Sie mir etwas erklären, das ich bis jetzt noch nicht verstanden habe. In der UNO hat sich die Bundesrepublik Deutschland unter Führung der Außenministerin Baerbock bei der Resolution der Stimme enthalten.

(Siegfried Borgwardt, CDU: Ja, genau!)

Mit Blick auf den hohen Rang der Staatsräson, der doch parteiübergreifend bei vielen gesehen wird, habe ich nicht verstanden, wieso so etwas gemacht wird, während andere europäische Staaten die Resolution abgelehnt haben. Das ist mir bis heute unklar. Können Sie mir auf die Sprünge helfen?

(Zustimmung bei der CDU)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Sie haben das Wort.


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Ich kann jetzt nicht für die Bundesaußenministerin sprechen; das werden Sie auch nicht erwarten. Ich kann Ihnen meine Gedanken zu diesem Vorgang mitteilen. Ich nehme das so wahr - das ergibt sich auch, wenn man die wirklich noch einmal stärkere Reisetätigkeit in den letzten Wochen erlebt, die viele aus der Bundesregierung allgemein, im Besonderen aber auch die Bundesaußenministerin an den Tag gelegt hat  , dass wir eine vermittelnde Rolle in diesem Konflikt einnehmen, um Gesprächskanäle offenzuhalten. Das könnte das Primat für diese Entscheidung gewesen sein.

(Minister Sven Schulze: Das ist doch der Witz des Tages!)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Dann hat Herr Tillschneider das Wort. - Bitte sehr.


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD): 

Sie haben Brecht zitiert: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Das kommt aus der Kriegsfibel, wie Sie sicherlich wissen.

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Nein, aus „Arturo Ui“!)

Und interessanterweise kommen auch meine Lieblings-Brecht-Verse aus der „Kriegsfibel“. Die „Kriegsfibel“ ist eine Text-Bild-Collage. Meinem Lieblingsvers steht ein Bild gegenüber von Churchill und anderen vor der Downing Street, dem englischen Regierungssitz. Der Vers daneben lautet so: 

„Ich hör die Herrn in Downingstreet euch schelten,/“

- also das deutsche Volk -

„Weil ihr‘s gelitten, trüget ihr die Schuld./Wie dem auch sei: die Herren schelten selten/Der Völker unerklärliche Geduld.“

(Lachen und Zustimmung bei der AfD)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Wenn Sie darauf antworten wollen, können Sie das jetzt tun.

(Zuruf von der AfD: War das zu viel, Frau Lüddemann?)


Cornelia Lüddemann (GRÜNE): 

Ich würde in Entgegnung nur darauf hinweisen, dass das Zitat aus dem Theaterstück „Das Leben des Arturo Ui!“ - oder so ähnlich heißt es - stammt, um das an der Stelle klarzustellen.

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Was? Das ist aus der „Kriegsfibel“! Mensch, ich hab die „Kriegsfibel“ doch gelesen! - Lachen bei der AfD)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Dann können wir in der Debatte fortfahren.

Ich will, bevor Herr Heuer ans Mikrofon geht, kurz darauf aufmerksam machen, dass wir jetzt den genauen Wortlaut des Endes der Rede von Herrn Kirchner haben. Ich lese das einmal vor, wie es mir vorgelegt wurde: „Sie sind auch kein Problemverwalter, wie ich früher immer dachte. Sie sind einfach nur ein Problemschaffer. Und Probleme schaffen gehört abgeschafft [...].“

(Cornelia Lüddemann, GRÜNE: So hat er es gesagt!)

Das waren die Worte von Herrn Kirchner. Ich gehe jetzt sozusagen eindeutig davon aus, dass es keine auf personenbezogene Bemerkung in Bezug auf Herrn Haseloff gewesen ist, sondern dass sich sozusagen aus dem Satzbau andere Konnexionen abgeleitet haben. Damit hat sich die Sache natürlich erledigt.

(Ulrich Siegmund, AfD: Das können Sie das nächste Mal vorher prüfen, bevor Sie rügen! - Margret Wendt, AfD: Dann kann man es ja vorher prüfen! - Weitere Zurufe von der AfD)

- Also wissen Sie, wir können solche Debatten hier immer weiter fortführen, dann werden wir uns im Ältestenrat wieder damit auseinandersetzen, wie mit dem Präsidium und der Tagungsleitung umzugehen ist. Das können wir gern machen. Aber ich bitte jetzt darum, einen solchen Punkt einfach zu unterlassen, auch im Interesse der Würde dieser Debatte

(Unruhe bei der AfD)