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Plenarsitzung

Transkript

Dr. Katja Pähle (SPD):

Werte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, die Geschichte der Umbrüche in den 90er Jahren und schließlich die heutige Situation in Ostdeutschland - all das ist für die, die diese Entwicklung erlebt haben, eine Geschichte voller Widersprüche, voller Licht und Schatten - außer offenkundig für DIE LINKE. Sie haben es geschafft, mit ihrem Antrag die Geschichte von 33 Jahren für mich kurz so zusammenzufassen: Alles Mist und die DDR ist nicht schuld.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Das finde ich, ehrlich gesagt, schwach. Ich will deshalb zunächst darauf eingehen, was heute die positiven Anker unserer Entwicklung sind; die guten Ansätze, die wir weiter voranbringen müssen, um das Leben in Ostdeutschland noch attraktiver zu machen, um Sachsen-Anhalt zu einem starken Bundesland zu machen und um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, wie es unser Grundgesetz vorsieht.

Punkt 1. Die Ansiedlungspolitik. Neue Industrieunternehmen, neue Wertschöpfungsketten, zukunftsfähige Produktion - das schafft endlich die wirtschaftliche Grundlage dafür, dass ostdeutsche Regionen im deutschen und europäischen Rahmen mithalten können. Es ist gut, dass wir dabei keineswegs nur über Magdeburg und Intel sprechen. Dresden, Leipzig, Erfurt, Bernburg, Grünheide - all diese Standorte stehen für eine aktuelle Entwicklung, die wir lange erhofft, aber bislang nicht erlebt haben.

Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den LINKEN, fällt zu den bevorstehenden Milliardeninvestitionen von Intel in Ihrem Antrag nichts Besseres ein, als den Verdacht in den Raum zu stellen, dass die dafür eingesetzten staatlichen Fördermittel nicht in gute Arbeit investiert werden. Das Gegenteil wird doch der Fall sein: Die hochwertigen Arbeitsplätze, die hier entstehen, bieten die Chance, dass das Lohnniveau weit über das von Intel hinaus steigen wird. Die Ausschüsse, die gerade in Irland waren, haben das bei Gesprächen, glaube ich, eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der FDP)

Es pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, dass mittelständische Betriebe sich schon jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wie sie im Wettbewerb um Arbeitskräfte mithalten können. Das ist unsere Aufgabe: ihnen zu helfen, in diesem Wettbewerb bestehen zu können. Das geht nur mit guter Arbeit, guten Löhnen und auch mit Investitionsunterstützungen.

Punkt 2 auf der Habenseite für Ostdeutschland ist die Stärkung der unteren Einkommensgruppen, insbesondere durch die Politik der Bundesregierung. Dabei ist an erster Stelle der Mindestlohn zu nennen. Zur Erinnerung: Von der Erhöhung im Oktober 2022 haben Ostdeutschland 18 % der Beschäftigten profitiert. In Westdeutschland waren es 14 %. In keinem anderen Bundesland waren es so viele wie in Sachsen-Anhalt. 18,6 % der Beschäftigten bekommen in unserem Land den erhöhten Mindestlohn. Gleichzeitig ist das auch eine schlechte Aussage, weil es so viele Menschen gibt, die auf einen Mindestlohn angewiesen sind. 

(Eva von Angern, DIE LINKE: Ja!)

Und dass dieser weiter steigen muss, will ich unmissverständlich hinzufügen.

(Zustimmung bei der SPD)

Zur Stärkung der unteren Einkommensgruppen wird wohl auch die deutliche Ausweitung des Kreises der Wohngeldberechtigten beitragen und selbstverständlich auch die jetzt endlich erreichte Angleichung der Rentenniveaus. Dass darüber hinaus Gerechtigkeitsdefizite im Rentenrecht weiterhin bestehen, das hat gestern Ministerin Grimm-Benne schon in der Fragestunde deutlich beantwortet. Ich will ganz deutlich sagen: Der Härtefallfonds der Bundesregierung ist weit weg von einem erhofften und gewünschten Gerechtigkeitsfonds.

(Eva von Angern, DIE LINKE: Ja!)

Die Einigung des Bundes hat aus Sachsen-Anhalt deutliche Kritik erfahren und sie hätte noch mehr kritisiert werden müssen.

(Zustimmung von Katrin Gensecke, SPD)

Um auch das zu ergänzen: Damit solche Fortschritte für untere Einkommensgruppen nicht durch Inflation aufgezehrt werden, ist es umso wichtiger, die Ursachen von Inflation zu bekämpfen und insbesondere spekulative Gewinne auch abzuschöpfen.

Der dritte positive Faktor: Wir haben einen klaren Vorsprung Ost bei der Erwerbstätigkeit von Frauen,

(Zustimmung bei der SPD und von Guido Heuer, CDU)

beim Vergleich der Einkommen von Frauen und Männern und, im klaren Zusammenhang damit, bei der flächendeckenden Versorgung mit Kitas beim Ganztagsanspruch. Westdeutschen Landesregierungen treibt der Gedanke daran, dass sie ab 2026 den Ganztagsanspruch im Grundschulalter gewährleisten müssen, den Schweiß auf die Stirn. Bei uns ist das überall gelebte Realität. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ich will aber auch über die Risikofaktoren sprechen. Denn es ist klar, dass der neue Aufschwung Ost kein Selbstläufer ist, auch nicht in Sachsen-Anhalt. Einen dieser Risikofaktoren möchte ich einmal so benennen: Die Transformation darf nicht scheitern. Sachsen-Anhalt ist früh vorangegangen beim Ausbau erneuerbarer Energien. Sachsen-Anhalt hat sich aktiv am Kompromiss zum Kohleausstieg beteiligt. Jetzt müssen die Erwartungen, die an die Gestaltung des Transformationsprozesses gerichtet wurden, auch erfüllt werden: die Unterstützung der Ansiedlung neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze und der Ausbau der dafür benötigten Infrastruktur. Davon wollen die Leute im Revier jetzt etwas sehen. Mit der Einsetzung eines Bürgerbeirates ist es dabei nicht getan.

Eine wichtige Funktion kann und muss dabei dem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Tranceformation zukommen. Dass die Standortentscheidung für Halle gefallen ist, ist ein dicker Pluspunkt für Sachsen-Anhalt.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Damit das Zentrum an diesem Standort Wirklichkeit wird, werden aber noch einige Hausaufgaben zu erledigen sein, auch durch uns hier im Landtag. Wenn wir es schaffen, dass mitten in Deutschland, in Sachsen-Anhalt, ein Thinktank entsteht, in dem die ostdeutschen Erfahrungen mit demokratischer Revolution, Wiedervereinigung und Transformation für andere nutzbar gemacht werden, dann schaffen wir endlich einen längst überfälligen Perspektivwechsel.

Zu den besonderen Risikofaktoren gehört zudem der Fachkräftemangel. Das ist natürlich ein gesamtdeutsches Thema, aber es gibt auch hausgemachte Defizite. 

(Ulrich Siegmund, AfD: Ja, von Ihnen!)

Dazu gehört etwa die Studienbereitschaft. Denn während so mancher Kollege, manche Kollegin in diesem Hohen Haus gern beklagt, dass heute alle nur noch studieren wollen, ist die Realität in Sachsen-Anhalt eine andere. Nur 39,4 % unserer Abiturientinnen und Abiturienten nehmen ein Studium auf. Nur in zwei Bundesländern ist diese Quote noch niedriger. Und auch das haben wir bei Intel gehört: welche Fachkräfte für diese große Ansiedlung gebraucht werden. Dass wir mit dieser Quote Lücken beim akademisch gebildeten Nachwuchs bekommen, liegt auf der Hand. 

Noch wichtiger im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte ist aber die Frage, wie attraktiv Sachsen-Anhalt und andere ostdeutsche Regionen für Zuwanderung sind.

(Ulrich Siegmund, AfD: Nein!)

Wenn eine Region eher durch Ressentiments als durch Willkommenskultur auf sich aufmerksam macht, dann ist das eben ein Wettbewerbsnachteil, 

(Zuruf von der AfD: Nein!)

wie das Fehlen von Angeboten von Sprachmittlern an den Schulen.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will das ganz deutlich sagen: Es geht nicht nur um Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen - das Ausland erstreckt sich übrigens auch auf Frankreich, Großbritannien, Irland, Dänemark, Österreich und Italien  , sondern es geht auch um die, die in den westdeutschen Bundesländern in Familien aufwachsen mit einer sehr weit zurückliegenden Migrationsgeschichte. Ob sie aufgrund ihres Aussehens gern nach Ostdeutschland kommen, das muss unsere Fragestellung sein. Und wenn die Antwort „Nein“ ist, müssen wir etwas daran ändern.

(Zustimmung bei der SPD und von Guido Kosmehl, FDP)

Wenn wir offen und attraktiv für Menschen unterschiedlicher Herkunft sein wollen, die sich in Sachsen-Anhalt und in anderen ostdeutschen Ländern einbringen und niederlassen wollen, dann passt das nicht zusammen mit der Stoßrichtung des Antrags der LINKEN. Wenn man dieser Logik folgt, dann ist 33 Jahre nach der Wiedervereinigung das größte Problem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Ost und West der Geburtsort. Dem widerspreche ich ganz deutlich.

Natürlich bildet die Herkunft von Führungskräften in der Politik, in der Wirtschaft und in anderen Bereichen das Einflussgefälle in den 1990er-Jahren und danach ab. Wie könnte es auch anders sein? Sich aber immer und immer wieder auf diese Frage zu fixieren, wie es DIE LINKE tut, wird niemandem gerecht. Es wird denen nicht gerecht, die in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind, aber seit 20, 25 oder 30 Jahren ihren Lebensmittelpunkt hier haben, ihre Familie hier gegründet haben und Teil des Aufbaus dieses Landes geworden sind.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Ihnen wollen wir den Geburtsort genauso wenig vorhalten wie Menschen, die in Polen, Spanien oder Ghana geboren sind. Das anhaltende Starren auf die frühere Trennungslinie zwischen Ost und West wird aber erst recht nicht der Generation gerecht, die nach der Wiedervereinigung geboren ist. Ich sage das hier vorn ganz deutlich auch als Mutter von zwei Töchtern einer Generation, die mit den Begriffen Ossi und Wessi überhaupt nichts mehr anfangen kann.

(Zustimmung bei der FDP)

Bei der Aussage, dass es einmal etwas anders als diese Bundesrepublik gab, starren sie mich ungläubig an. Ich glaube, deshalb müssen wir diese Diskussionen um den Geburtsort eines Menschen endgültig zur Seite legen.

Es gibt viele Gegensätze in unserer Gesellschaft, um die wir uns tatsächlich kümmern müssen. Da haben auch wir in Sachsen-Anhalt einiges zu tun: die Unterschiede zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen, das Gefälle zwischen dem großen Reichtum weniger und der relativen Armut einer deutlich größeren Gruppe, die Chancenunterschiede, die für manche den Zugang zu Bildung, beruflichem Aufstieg und gesellschaftlicher Mitwirkung leicht machen und für andere große Hürden darstellen, der Gegensatz zwischen denen, die sich aktiv in unsere Demokratie einbringen und sie gestalten wollen, und jenen, die sich von ihr abwenden und sie von innen heraus zerstören wollen.

Lassen Sie uns gemeinsam diese Herausforderung angehen. Ich kenne viele kluge und solidarische Menschen, auch aus Westdeutschland, die dabei mitmachen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)