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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 5

Beratung

Umgang mit dem Opferentschädigungsgesetz

Antrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/3192


Frau Godenrath möchte den Antrag gern einbringen, sofern Herr Tullner sie dabei nicht behindert. Wir haben eine Fünfminutendebatte vereinbart. - Bitte.


Kerstin Godenrath (CDU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wir sprechen heute über ein sehr sensibles und sehr emotionales Thema. Ich würde Sie zunächst bitten, sich in folgende Situation hineinzuversetzen: Sie befinden sich auf dem Heimweg. Sie kommen vielleicht vom Ausschuss, von irgendeinem Termin; Sie kommen vielleicht von einer geselligen Feier. Der Weg ist Ihnen nicht unbekannt. Es ist ein Weg, den Sie jeden Tag gehen; Sie kennen jedes Gebüsch, jede Straßenlaterne. Sie fühlen sich einfach sicher; Sie fühlen sich heimisch.

Plötzlich werden Sie angesprochen und vielleicht um Feuer für eine Zigarette gebeten. Während Sie noch in Ihrer Tasche wühlen, merken Sie bereits, es ist Ihnen irgendwie komisch. Sie bemerken bei Ihrem Gegenüber eine aufgesetzte Freundlichkeit und ein falsches Lächeln. Sie merken bereits irgendwo tief in sich drin: Hier stimmt irgendetwas nicht.

Plötzlich, ohne Ihr Zutun, eskaliert die Situation. Sie werden gepackt, Sie werden zu Boden geworfen und Sie versuchen, sich am Boden zusammenzurollen, um Ihren Körper vor Tritten und Schlägen, die auf Sie niederprasseln, zu schützen. Ihnen wird die Kleidung vom Leib gerissen. Sie werden brutal misshandelt und missbraucht. Sie spüren an dieser Stelle immer noch Schmerz und Angst. Sie wissen nicht, was gerade passiert, und Sie wissen nicht, ob Sie das überleben, und Sie wissen in dem Moment eigentlich überhaupt nichts mehr.

Irgendwann wird der Moment kommen, in dem der Täter von Ihnen ablässt. Irgendwann wird der Moment kommen, in dem Sie vielleicht von Passanten, von der Polizei, vom Rettungsdienst gefunden werden.

(Oliver Kirchner, AfD: Oder Sie sterben einfach!)

Die Ärzte im Krankenhaus werden Sie befragen. Sie werden Ihnen Fragen dazu stellen, was passiert ist. Die Polizei wird Sie befragen. Ihre Familie, Ihre Angehörigen, Freunde werden wissen wollen, was passiert ist. Es wird vielleicht eine Gerichtsverhandlung geben. Sie sollen Ihre Geschichte erzählen, und das wieder und wieder.

Meine Damen und Herren, was denken Sie denn, zu was für einem Menschen Sie nach einem solchen Erlebnis werden? Würden Sie sagen: Ja, das Leben geht weiter, wir schütteln uns kurz und gehen wieder zur Tagesordnung über? Oder würde sich der Weg, den Sie gegangen sind, für Sie jemals sich wieder so sicher anfühlen, wie es vorher gewesen war? Könnten Sie jemals wieder unbefangen sein, wenn Fremde Sie ansprechen? Wären Sie überhaupt in der Lage, Ihr Leben wieder so zu leben, wie Sie es vorher getan haben? Vielleicht haben Sie körperliche Verletzungen erlitten, die nicht heilen - von seelischen Wunden ganz zu schweigen. Denn man sagt nicht umsonst: Das Opfer hat meistens lebenslänglich.

Denken Sie, dass Sie dann fähig sein werden, zu sagen: So, ich schaue einmal, welche staatlichen Leistungen es eigentlich gibt; mir ist etwas passiert; ich gehe auf Google und schaue, wie der Staat mir helfen kann? Oder denken Sie, dass Sie das nicht schaffen? 

Denn es gibt staatliche Unterstützung für die Opfer von Gewaltstraftaten. Sie ist im Opferentschädigungsgesetz geregelt. Das Opferentschädigungsgesetz sagt aus, dass Menschen, die Opfer von Gewaltstraftaten geworden sind, eine Entschädigung für erlittene Schäden erhalten. Das können Heilbehandlungen sein. Das können Rentenzahlungen sein, auch Unterstützungsleistungen, wenn jemand eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren möchte.

Das klingt erst einmal alles gut und es klingt erst einmal alles auskömmlich. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass es hierbei durchaus Probleme gibt. Denn kaum jemand kennt das Opferentschädigungsgesetz. Auch wenn die Landesregierung ausführt - das hat sie in einer Stellungnahme an den Petitionsausschuss getan  , dass es Merkblätter gibt; es gibt Flyer, Informationen auf der Website. Wenn das trotzdem nicht dazu führt, dass mehr Opfer über das OEG informiert werden, dann ist die Öffentlichkeitsarbeit vielleicht doch nicht so adressatenbezogen, wie sie es vielleicht sein sollte.

Menschen, denen Furchtbares passiert ist, denen Furchtbares wiederfahren ist, handeln nicht rational. Einfache Dinge, wie im Internet zu recherchieren etc., bedeuten für diese Menschen oft unüberwindbare Hürden. Deswegen ist es wichtig, dass Opfer, eigentlich alle Menschen, darüber informiert sind, dass es ein Opferentschädigungsgesetz überhaupt gibt.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Ein ganz, ganz wichtiger Schritt, der an dieser Stelle schon getan wurde - über den ich mich freue  , ist, dass die Fachhochschule der Polizei vor Kurzem einen Grundlehrgang für die Opferschutzbeauftragten in den Polizeidienststellen veranstaltet hat. Der dauerte eine ganze Woche. Dort konnten verschiedene Akteure, die Opferbeauftragte des Landes, Opferhilfsorganisationen und Behörden, die Kollegen über die unterschiedlichsten Arten der Opferhilfe informieren und auch über das Opferentschädigungsgesetz. Ich durfte dort eine Vorlesung halten. Das war mir ein großes Bedürfnis. Ich freue mich, dass die Fachhochschule der Polizei das gemacht hat. 

Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Die Opferschutzbeauftragten in den Polizeidienststellen sind im direkten Kontakt mit den Betroffenen. Auch Menschen, die keine Opferhilfsorganisationen aufsuchen wollen oder können, sollen wissen, dass ihnen von staatlicher Seite geholfen werden kann. Das ist eben nur möglich, wenn sie vollumfänglich informiert werden. Das kann eben geschehen durch die Polizei, vielleicht auch in Krankenhäusern, durch Staatsanwaltschaften, in Frauenhäusern; an jeder Stelle, an der man mit den Betroffenen Kontakt hat.

Wenn man dann vielleicht so weit ist und sagt: Okay, ich habe erfahren, es gibt ein Gesetz, was mir helfen kann; dann schaut man auf die Website, möchte sich die Formulare herunterladen und dann ist man gleich noch einmal verwirrt. Denn dort gibt es tatsächlich einige Formulare. Eines ist gar nicht hinterlegt. Da wundert man sich und sagt: Was ist denn das hier? 

Dann ist auf den ersten Blick gar nicht klar, welches Formular muss ich denn nutzen. Hierbei verweise ich noch einmal auf die Betroffenheit von Opfern. Es ist für Menschen, die nichts erlebt haben, die mental und körperlich unversehrt sind, vielleicht kein Problem, irgendwo anzurufen und zu fragen. Für Opfer ist es das nicht. Deswegen ist es auch hierbei wichtig, eine adressatengerechte Ansprache vorzunehmen.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Bearbeitungszeiten von Anträgen lang sind, sehr lang. Oftmals müssen Opfer ihre Geschichten mehrfach erzählen und begründen. Jetzt frage ich erneut danach, wie es sich anfühlt, wenn Sie Erlebtes wieder und wieder darlegen müssen; wenn Sie versichern müssen, wie schlecht es Ihnen geht, wie schlecht es Ihnen wirklich geht; wenn Sie das Gefühl haben, sich rechtfertigen zu müssen. Bei vielen Opfern kommt auch Scham noch mit hinzu oder Angst - das dürfen wir nicht vergessen. 

Meine Damen und Herren! Das ist zermürbend. Es ist retraumatisierend, wenn Sie immer wieder auf das Neue über das Tatgeschehen berichten müssen; wenn Sie sich immer wieder in die Situation versetzen müssen, immer wieder durchleben müssen, was Ihnen passiert ist. Damit machen wir Menschen erneut zu Opfern. Das schreckt viele Menschen von vornherein ab und es raubt ihnen enorm viel Kraft.

Was ist es bitte für ein Signal, wenn mittlerweile Ärzte, Therapeuten oder Anwälte Opfern raten, ihre Anträge im Verfahren zurückzuziehen oder sie erst gar nicht zu stellen? Die Antragsquote liegt bundesweit bei unter 10 %. Mir sind viele Beispiele bekannt, in denen Opfer von den zermürbenden Prozessen berichten; davon, dass sie Beklemmungen haben, weil schon wieder ein Behördenbrief gekommen ist; dass sie sich erneut erklären müssen. 

Im Jahr 2021 wurden bundesweit - auch wenn wir in Sachsen-Anhalt etwas besser dastehen, sind die Zahlen trotzdem repräsentativ - fast 50 % der Anträge auf Entschädigung abgelehnt. 

Das heißt aber nicht, dass die restlichen 50 % positiv beschieden worden sind. Nein, das betrifft lediglich ein Viertel der Anträge. Die restlichen 25 % der Anträge bekommen den Status „erledigt aus sonstigen Gründen“. Was sich dahinter verbirgt, kann vielschichtig sein. Natürlich kann es manchmal sein, dass ein Fall das Bundesland wechselt. Dann fällt der aus der Statistik raus. 

Aber es sind eben auch die Fälle, bei denen Antragsteller ihren Antrag zurückziehen. Manchmal versterben sie, und manchmal versterben sie bei einem Suizid, weil sie das Ganze nicht mehr aushalten. Das zeigt deutlich, dass derartige Verfahren nicht so lange dauern dürfen. Opfer dürfen nicht retraumatisiert werden, indem sie ihre Geschichte wieder und wieder vortragen müssen. 

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich habe vorhin erwähnt, dass Behördenbriefe bei Opfern Beklemmungen auslösen können - und das, bevor sie überhaupt geöffnet wurden. Also, allein schon der Gang zum Briefkasten ist für viele Leute ein großes Hindernis. Das ruft einen weiteren Punkt hervor, nämlich die Tatsache, dass der Schriftverkehr nicht sensibel ist. Deswegen haben Opfer eben nicht nur Beklemmungen, sondern manchmal richtig Angst davor, Behördenbriefe zu öffnen.

Ich weiß natürlich - ich entstamme in beruflicher Hinsicht einer Verwaltung -, dass Verwaltungsentscheidungen immer auf Paragrafen, auf Gesetzen und auf Richtlinien beruhen und dass die genau damit auch begründet werden müssen. Das ist gerade dann wichtig, wenn es vielleicht zu einem Gerichtsverfahren kommt. Das verstehe ich. Aber Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden, körperlich und seelisch, brauchen einfach an dieser Stelle ein besonderes Einfühlungsvermögen. Und darauf müssen wir achten. Vielleicht kann es gelingen, dass neben der Verwaltungsbegründung auch einige erklärende Worte fallen, die man sich als Opfer nicht von einem Anwalt übersetzen lassen muss. 

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen nicht das Gesetz kritisieren, sondern den Umgang damit. Das Opferentschädigungsgesetz ist eine wichtige und richtige Institution. Es muss im Sinne der Opfer angewendet werden. Das Ziel muss es sein, dass bei Antragsverfahren auf Zustimmung und nicht auf Ablehnung geprüft wird. Deshalb wollen wir, dass eben geschaut wird, ob die aktuelle Kommunikationsstrategie geeignet und ausreichend ist, ob sie die Menschen erreicht, für die es wichtig ist.

Wir wollen, dass die Abläufe des Antragsverfahrens evaluiert werden, damit wir wissen, ob sie verbessert, verkürzt und vereinfacht werden können. Es ist gut und es ist wichtig, dass ab 1. Januar 2024 zusätzliche Fallmanager eingesetzt werden. Vielleicht führt das dazu, dass sich die Bearbeitungszeit der Anträge dadurch schon verkürzt. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse der Kampagne zur Verbesserung der Opferhilfestrukturen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Schluss: Verstehen Sie den Antrag weder als Kritik noch als Fingerzeig, mit dem darauf hingewiesen wird, dass jemand seine Arbeit nicht richtig macht. Verstehen Sie ihn bitte als Anregung, die dazu führen soll, den Blick zu schärfen und besser auf die Bedürfnisse der Opfer einzugehen. Das Thema geht uns alle an; denn jeder Mensch kann Opfer werden. - Vielen Dank. 

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Danke, Frau Godenrath.