Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 24

Beratung

Zwangsausgesiedelte materiell würdigen - DDR-Unrecht bewältigen

Antrag Fraktion AfD - Drs. 8/2668

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Dr. 8/2713


Herr Loth steht bereits für die einbringende Fraktion vorn. - Sie haben das Wort.


Hannes Loth (AfD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist früh am Morgen. Die Sonne ist noch hinter dem Horizont. Das Leben erwacht langsam im ehemaligen Grenzgebiet. Man sitzt vielleicht gerade beim Frühstück und macht sich fertig für die Arbeit. Es klopft. Laut und gewaltig hallt das Klopfen durch die Stille. Laut und gewaltig hallt es hinterher: „Volkspolizei! Tür öffnen!“ Verdutzt blickt man sich am Tisch an. Einer springt auf, eilt zu Tür und öffnet. Der Volkspolizist fragt: „Herr Mai?“. „Ja“, antwortet dieser angespannt. „Laut Verordnung des Ministerrats über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands werden Sie und Ihre Familie zur Sicherung der Demarkationslinie und zur Sicherung unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates aufgefordert, dieses Gebiet sofort zu verlassen. Sie haben zwei Stunden Zeit, Ihre Sachen zu packen. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, sind wir befugt, Zwangsmittel einzusetzen.“, teilt der Volkspolizist mit.

Herr Mai schließt fassungslos die Tür, dreht sich um und schlurft zurück zum Tisch. Die Familie schaut ihn erschrocken an. Alle haben es mitgehört. Resigniert nickt Herr Mai den Familienmitgliedern zu. Man springt auf, packt die Sachen hastig zusammen; Papiere, wichtige Dokumente, vielleicht noch ein Kuscheltier, die letzten Reste der im Krieg gebliebenen Väter und Brüder - nur ein paar Taschen, mehr geht nicht. Alle sind geschockt. Alles läuft automatisch. Keine Gegenwehr, die sowieso sinnlos ist gegen den gesamten Staatsapparat. Familie Mai fügt sich und wird ins Ungewisse abtransportiert; heimatlos, ratlos und verloren.

Werte Damen und Herren! Das Unrecht, welches von mir anhand der fiktiven Familie Mai stellvertretend für mehr als 11 000 Einzelfälle geschildert wurde, kann man nicht wiedergutmachen. Die Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze erfolgten geheim, geplant, vom Ministerrat initiiert und von der Sowjetunion angeordnet. Die Auszusiedelnden wussten nichts von der Aktion. Sie hatten keine Zeit, sich vorzubereiten oder sich gar in irgendeiner Weise gegen die Aktion zu wehren. Widerstand wurde nicht selten niedergeschlagen. Die Zwangsausgesiedelten wussten auch nicht, wo sie hinkommen würden und wie das weitere Leben aussehen sollte.

Oft wurden die Nachbarn an den Stellen, die ihnen zum Leben zugewiesen wurden, gewarnt, sodass die Neuen nicht nur neu, sondern auch gefährlich waren. In aller Regel wurden die Neuen dort geschnitten. Durch dieses staatliche Vorgehen erlitten sie nicht selten psychische und oft auch physische Schäden, die bei manchen noch bis heute nachwirken.

Wir verfolgen mit unserem Antrag nicht das Ziel der Wiedergutmachung oder der Entschädigung. Denn das, was diese Menschen erleiden und erdulden mussten, ist nicht wiedergutzumachen.

Das betraf DDR-weit, wie gesagt, mehr als 11 000 Menschen, die bei Nacht und Nebel unter Anwendung von brachialer Gewalt aus ihren Häusern geholt und meist mit unbekanntem Ziel planlos in der DDR wieder angesiedelt wurden. Manchmal wurden dabei auch Familien getrennt. Die uniformierten Verwaltungen an den Zielorten der Deportationsorte behandelten diese nicht selten als asoziale Obdachlose. Die Aktion „Ungeziefer“ und die Aktion „Grenze“ griffen tief in die Biografien dieser Menschen ein. Man nennt diese Personengruppe Zwangsaussiedler, um sie von den Umsiedlern zu unterscheiden, die in der DDR-Sprachregelung die Heimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten waren. Es betraf Familien und Personen, die im Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze wohnten, die als unzuverlässig im Sinne der SED-Führung eingestuft wurden.

Das waren z. B. Kirchgänger und Personen mit bekannten verwandtschaftlichen Beziehungen zu der anderen Seite. Oft reichte aber auch die bloße Denunziation für die Zwangsaussiedlung. Die erste große Deportationswelle fand im Juni 1952 unter der zynischen Bezeichnung „Aktion Ungeziefer“ statt, eine zweite 1961 unter dem Decknamen „Aktion Grenze“. Dazwischen und danach gab es noch vereinzelte Aktionen.

Die Zahl der betroffenen Personen aus dem heute zu Sachsen-Anhalt gehörenden Grenzabschnitt wurde dankenswerterweise von der kürzlich aus dem Amt geschiedenen Beauftragten des Landes zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Frau Neumann-Becker ermittelt. Ich möchte Frau Neumann-Becker an dieser Stelle für ihre Arbeit danken, die oft unaufgeregt, aber immer zielstrebig erfolgte. Ich wünsche ihr für ihren weiteren Weg, auch beruflich, wenn es bei ihrer Stelle nicht mehr weitergeht, viel Erfolg.

(Beifall bei der AfD - Zustimmung von Olaf Feuerborn, CDU, und von Markus Kurze, CDU)

In Sachsen-Anhalt betrifft es heute möglicherweise noch 400 Menschen, Tendenz schnell abnehmend. Für diese Mitbürger ist der Prozess der Heilung und der Anerkennung noch nicht abgeschlossen. Diese Menschen wurden nach der Wende durch alle Raster der Entschädigung und der Wiedergutmachung fallen gelassen. Darum geht es heute aber nicht mehr. Es geht um eine materielle unbürokratische Anerkennung des erlittenen Leides - ein Symbol oberhalb einer vielleicht beleidigenden Almosengrenze, eine Einmalzahlung in Höhe von 1 500 € pro Person.

Zwar wurde das sogenannte Verwaltungsrecht der Beschlagnahme der im Grenzgebiet befindlichen Immobilien auf Antrag rückgängig gemacht. Diese Immobilien existieren aber in der Regel nicht mehr. Denn die exponierten Häuser und Gehöfte wurden geschliffen.

Man kann sagen: Die soziale Existenz wurde von einem auf den anderen Tag getilgt. Den Menschen war unter Androhung schwerster Repressalien untersagt, über das Erlebte zu sprechen. Sie standen unter permanenter Beobachtung.

Einen Verweis auf den Härtefallfonds des Landes halte ich nicht für angemessen. Dieser mit jährlich 50 000 € ausgestattete Fonds reicht leider vorn und hinten nicht. Bei einem Antragsvolumen von 30 Anträgen pro Jahr kann hiermit nur knapp die Hälfte der Zahl der Antragsteller unterstützt werden. Die anderen müssen auf das Folgejahr vertröstet werden. Die Anerkennungsleistung für erlittenes Leid von Zwangsausgesiedelten soll nicht auch noch zulasten dieses ohnehin schon dürftig ausgestatteten Fonds gehen.

Das Land Sachsen-Anhalt gedenkt der Opfer der Zwangsaussiedlung zwar mit einer jährlichen Kranzniederlegung in Hötensleben. Dem muss aber auch eine materielle Anerkennung folgen. Wenn ich die Zahl von 400 verbliebenen Opfern zugrunde lege, dann komme ich auf einen Maximalbetrag von 600 000 €. Wenn ich mir die Einzelpläne für das Haushalsjahr 2023 anschaue, dann stelle ich fest: Die Gelder, die darin zu finden sind, könnten ausreichen. Allein schon aufgrund der Nichtauszahlung der Stiftungsgelder für parteinahe Stiftungen sind zurzeit 300 000 € im Haushalt frei.

Ich gehe nicht davon aus, dass wirklich alle Berechtigten einen Antrag auf Auszahlung der Anerkennungsprämie stellen werden, weil einige doch schon damit abgeschlossen haben, andere mit dem Betrag vielleicht nicht zufrieden sind und das Symbol noch immer als zu klein empfinden.

Ich erinnere daran, dass es in Westdeutschland nach dem Krieg Heimatvertriebene gab, die den ihnen angebotenen Lastenausgleich strikt abgelehnt haben. Damit, denke ich, können wir auch in diesem Fall rechnen. Die 600 000 €, die im Raum stehen, sind also der maximal mögliche Betrag.

In diesem Jahr jährt sich der 17. Juni zum 70. Mal. Wir alle tun gut daran, statt warmer Worte einen vergleichsweise geringen Betrag für eine zahlenmäßig überschaubare Personengruppe zur Verfügung zu stellen, die, als es noch um Wiedergutmachung ging, offenbar völlig in Vergessenheit geraten ist.

In Thüringen, wo wegen der Länge der Grenze zum Westen noch mehr Betroffene leben, war ein Gesetzentwurf für die Anerkennungsprämie gescheitert. Damals ging es um einen höheren individuellen Betrag. Wir sollten uns im Monat des 70. Jahrestages des Volksaufstandes gegen die SED-Diktatur eine solche Peinlichkeit ersparen. Helfen Sie uns, hiermit ein Zeichen gegen Willkür und Unrecht zu setzen. Unterstützen Sie unseren Antrag. - Danke schön.

(Beifall bei der AfD)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Danke. - Ich will im Namen des Hohen Hauses nur eine kleine Richtigstellung vornehmen: Selbstverständlich ist Frau Neumann-Becker als Aufarbeitungsbeauftragte des Landes nach wie vor im Amt.


Hannes Loth (AfD):

Ja.


Vizepräsident Wulf Gallert:

Sie ist heute auch anwesend. - Ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen des Hauses.

(Beifall im ganzen Hause)


Hannes Loth (AfD):

Sie ist selbstverständlich noch im Amt, aber die Amtszeit ist abgelaufen. Solange noch keine neue Person verfügbar ist, ist sie noch dabei. - Danke schön.