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Plenarsitzung

Transkript

Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Mit nur fünf Artikeln hat die nationalsozialistische Regierung am 24. März 1933 das parlamentarische System und die Gewaltenteilung mittels des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich, dem sogenannten Ermächtigungsgesetz, zerstört, nachdem es zuvor durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat unmittelbar nach dem Reichstagsbrand bereits schwer erschüttert worden war.

Ich bin der SPD-Fraktion dankbar, dass sie uns durch ihren Antrag die Möglichkeit eröffnet hat, an dieses Geschehen zu erinnern. Aus der Erinnerung an die Vergangenheit, so wie sie tatsächlich war, erwächst Belehrung und Orientierung für die Zukunft, und diese muss jeder Generation neu gegeben werden.

Es gehört zu den dunkelsten Stunden aller bürgerlichen Parteien, dass sie zum Beschluss des Ermächtigungsgesetzes die Hand gehoben haben. Sie wurden damit der aktiven Mitwirkung an der Errichtung der Diktatur in Deutschland schuldig.

Gleichzeitig bleibt es ein Zeugnis tiefer demokratischer Gesinnung, dass allein die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag unter dem Vorsitz von Otto Wels den Mut aufgebracht hat, dem Weg ins Unheil Widerstand entgegenzusetzen. Darum würdigen wir die Rede von Otto Wels als ein Aufbäumen der Freiheit der demokratischen freien Rede. Mutig, klar und unmissverständlich hat Wels an jenem 23. März 1933, also genau vor 90 Jahren, die eingetretene Lage charakterisiert und die Wahrheit beim Namen genannt. Vor allem hat er klar bekundet, dass das Wohl des Landes stets den Vorrang vor den Grundsätzen der Partei haben muss.

Auch der Parlamentarismus verlangt unter Umständen die Bereitschaft zum Standhalten und zur Selbstaufopferung. Er ist keine bequeme Ordnung. Er verlangt nach Grundsätzen und nach charakterlicher Eignung, weil jeder Abgeordnete über seine Parteibindung hinaus den Blick auf das Wohl und auf die Interessen des ganzen Volkes zu richten hat. Auch davon gab Otto Wels eindrucksvoll Zeugnis, wenn er sagte:

„Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“

Otto Wels leistet hier zugleich eine Ehrenrettung für das Parlament, wenn er bekundet:

„Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll.“

Die drohenden Gefahren standen ihm deutlich vor Augen und es ist ihm deshalb bis heute als Ehre anzurechnen, vor ihnen gewarnt zu haben. Alle 94 anwesenden SPD-Abgeordneten haben mit ihm gegen das Gesetz gestimmt.

Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle, Meinungsfreiheit und die kontroverse öffentliche Debatte sind keine Formalitäten. Sie sind die existenzielle Ordnung für eine freie Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Darum müssen sie immer mit allen Mitteln, unter allen Umständen und auch von allen verteidigt werden. Willy Brandt, um einen weiteren Sozialdemokraten zu zitieren, hat mit der ihm eigenen Eindringlichkeit formuliert:

„Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht.“

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Das ist es, was Parlamente in demokratischen Gesellschaften zu gewährleisten, wofür sie zu arbeiten und ein Beispiel zu geben haben.

Darum sind die freie Debatte und der Widerspruch notwendig. Darum ist es auch wichtig, die parlamentarischen Gepflogenheiten streng zu beachten; denn nur wenn wir in diesem Hause respektvoll miteinander umgehen, dann werden wir auch den Respekt der Menschen, die uns gewählt haben, bewahren.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Allerdings - auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit jenes 24. März 1933 hinzu - reicht das alles nicht aus. Das Verhängnis der Weimarer Republik lag am Ende darin, dass es in ihr seit dem 31. Juli 1932 keine Mehrheit der demokratischen Parteien mehr gab. Es ist auf Dauer unmöglich, eine Demokratie bewahren und verteidigen zu wollen, wenn die Demokraten in der Minderheit sind.

Darum ist das meine entscheidende Lehre aus diesem Tag: Die freie Gesellschaft lebt von der Mitwirkung und Mitgestaltung möglichst vieler Menschen. Sie lebt vom Mut für Demokratie und Freiheit und dem Eintreten für die Demokratie und die Freiheit.

An dieser Stelle möchte ich wähnen, dass aktuell ein Buch des Staatsrechtsprofessors Philipp Austermann von der Hochschule des Bundes in Brühl herausgeben worden ist. Er hat in seinem neuen Buch mit dem Titel „Ein Tag im März“ die Entstehung und Bedeutung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich nachgezeichnet. Dies ist aus heutiger Sicht für uns als Demokraten in diesem Haus relevant und existenziell.

Die Demokratie, wie sie in Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland definiert wird, ist immer nur so resistent gegen ihre Feinde, wie sie Unterstützung im Volk erfährt. Nur wenn wenigstens die überwiegende Mehrheit der Bürger die Ansicht vertritt, dass der Staat in ihrem Sinn funktioniert, steht sie zu seinen Institutionen. Verlieren der Staat und seine Repräsentanten die Unterstützung der Mehrheit, ist die Verfassung in großer Gefahr, und sei sie rechtlich noch so gut geschützt.

Weiter führt Austermann aus:

„Dann kann ein scheinlegales Gesetz genügen, um sie zu beseitigen und um eine vermeintlich rechtmäßige neue Ordnung zu begründen, in der Gesetze nichts weiter sind als schrankenlose Machtmittel, die zu Verbrechen aller Art ermächtigen.“

Genau das geschah am 23. März 1933.

Es ist nicht nur die Aufgabe der Parlamentarier, obgleich ihnen eine besondere Verantwortung zukommt, sich für die Demokratie und die Stabilität unserer Gesellschaft einzusetzen. Wir brauchen aber genauso das breite Engagement in unserem Gemeinwesen. Das betrifft die politischen Parteien genauso wie die Gewerkschaften, Bürgerbewegungen und viele Vereine und Verbände, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. In diesem Engagement drückt sich immer auch unmittelbare Mitbestimmung aus. In all diesen Bereichen muss die Demokratie lebendig sein und die Menschen täglich überzeugen.

Ich möchte diese Debatte nutzen, um ein Plädoyer für die breite Mitbestimmung und Mitwirkung in unserem Land zu halten. Das betrifft insbesondere die kommunale Ebene, auf der viele Probleme gelöst werden müssen, die den Menschen tatsächlich unter den Nägeln brennen. Wo es also um die Bewältigung der politischen Aufgaben geht, die uns gestellt sind, sind wir alle stets zum Kompromiss gerufen, der dem Lande dient. Wo es aber um unsere Freiheit und um die Grundsätze unseres Zusammenlebens geht, müssen wir kompromisslos sein.

Diese Debatte ist gleichzeitig eine Möglichkeit, um den vielen Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern zu danken, die sich tagtäglich für dieses Land einsetzen, und das sehr oft ehrenamtlich und uneigennützig.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Diese Menschen, die auf das Gemeinwohl schauen, sind das Rückgrat unserer Demokratie. Mit diesem Dank möchte ich meine Rede schließen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)