Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Transkript

Sebastian Striegel (GRÜNE):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spätestens mit der Selbstenttarnung des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds im Herbst 2011, also vor mittlerweile mehr als    

(Unruhe - Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE: Nichts zu hören! - Telefonklingeln - Lachen)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Herr Striegel, Sie haben das Wort. - Und Sie fahren jetzt bitte den Geräuschpegel herunter.


Sebastian Striegel (GRÜNE):

Vor mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt wurde auch einer breiteren Öffentlichkeit klar, dass der Verfassungsschutz als Verbund von 16 Landesverfassungsschutzbehörden sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst weder dem eigenen Anspruch als Frühwarnsystem der Demokratie gerecht wurde, noch dass dieser seinem gesetzlichen Auftrag ausreichend nachgekommen ist.

In den Jahren seit 2011 haben Presseberichte, Untersuchungsausschüsse und Gerichtsurteile schwere Missstände in der Struktur, bei der Arbeitsweise, beim Personal und bei den rechtlichen Befugnissen unserer Verfassungsschutzbehörden detailliert aufgezeigt. Jüngstes und umfassendes Beispiel ist der kürzlich auf der Plattform „FragDenStaat“ veröffentlichte Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahr 2012   das war heute bereits Thema  , in welchem der Verfassungsschutz Hessen seine Akten auf Erkenntnisse über das Trio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos untersuchte. Dieser Bericht sollte nach der Auffassung des die Einstufung verantwortenden und nunmehr ehemaligen Behördenleiters für ganze 120 Jahre unter Verschluss bleiben. 120 Jahre!

Erst nach öffentlichem Druck setzte das hessische Innenministerium die Verschlusszeit auf immerhin noch drei Jahrzehnte herunter; vorgeblich, weil die Geheimhaltung des Berichts Menschenleben schütze. Diese Argumentation wirkt zunächst verständlich. Der nun veröffentlichte und in Teilen geschwärzte Bericht zeigt aber, dass es möglich ist, ein solches Dokument zu veröffentlichen, ohne Menschenleben zu gefährden. Das nun gegen Widerstand aus Verfassungsschutz und konservativer Politik der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Schriftstück zeigt exemplarisch das Versagen der Verfassungsschutzbehörden in Deutschland auf. Hierin und nicht im vermeintlichen Schutz von Menschenleben lag auch der Grund, warum es die nächsten 30 Jahre hätte unter Verschluss bleiben sollen.

Es ist gut, dass journalistische Vehemenz und Sorgfalt dieses Schriftstück nun zutage gefördert haben.

(Guido Kosmehl, FDP: Geheimnisverrat!)

Der Vorgang zeigt auch, wie dringend dieses Land besseren und systematischeren Schutz für Whistleblower braucht, gerade auch im Bereich der Geheimdienste. Wir als GRÜNE plädieren schon länger dafür, insbesondere die Informationsübermittlung an die parlamentarischen Kontrollgremien grundsätzlich zu ermöglichen. Der 17 Seiten lange und zudem aus einem unsortierten Tabellenanhang mit mehr als 900 Ereignissen bestehende Bericht enthält keine neuen oder weitreichenden Erkenntnisse zum NSU oder seinem Umfeld. Vielmehr musste der Verfassungsschutz aufgrund verschwundener Aktenstücke feststellen, dass   ich zitiere   eine abschließende Sicherheit, dass Personen, Objekte und Ereignisse nicht doch im Zusammenhang stünden, nur durch Sichtung der nicht auffindbaren Aktenstücke möglich gewesen wäre.

Es traf eine mangelhafte Aktenarchivierung auf eine noch mangelhaftere Arbeit im Bereich Beschaffung und Auswertung. Der Berg an Informationen, den der Verfassungsschutz mithilfe einer Vielzahl von V-Leuten sammelte, enthielt in rund 41 % der Fälle Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechtsextremen Szene. Sich daraus ergebende Handlungen gab es keine. Denn   ich zitiere   „interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.“

Zusammenfassend zeigt der Bericht: Der Verfassungsschutz hat ein Problem, die für ein umfassendes Lagebild notwendigen Informationen zu generieren, sie zu analysieren und zu einem größeren Bild zusammenzufügen, sprich seine Arbeit zu machen. Die seit 2011 bundesweit und auch in Sachsen-Anhalt angestrengten Reformen haben dieses Problem nur teilweise lösen können. Woran liegt das? - Ich sehe im Wesentlichen drei Gründe, und zwar erstens das Festhalten an einem Extremismusbegriff, mit dem Gefahren für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte nicht adäquat beschrieben werden können, zweitens Struktur- und Kommunikationsprobleme und drittens die unzureichende parlamentarische und öffentliche Kontrolle.

Auch heute flogen in der Debatte die Hufeisen wieder tief. Das Festhalten an einem aus der Totalitarismustheorie abgeleiteten und im Kalten Krieg geprägten Extremismusbegriff überbetont vermeintliche Gemeinsamkeiten zwischen den Extremismen und verlagert das Problem an die gesellschaftlichen Ränder, während gleichzeitig die Gefahren für die Demokratie aus der Mitte von Gesellschaften heraus unsichtbar gemacht werden. So bedrohen Rassismus und Antisemitismus ohne Frage das friedliche Zusammenleben von Menschen und sie sind gleichzeitig überhaupt nicht beschränkt auf Extremismen, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und von Henriette Quade, DIE LINKE)

Dass auch der Verfassungsschutz zunehmend erkennt, dass eine Einteilung von Gefährdern für die Demokratie in Rechts- und Linksextremisten sowie Islamisten zu kurz greift, zeigt die heute in Rede stehende neue Kategorie mit dem etwas sperrigen Namen „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Dass es hierbei um Verfassungsfeinde geht, ist angesichts der Gewaltaufrufe, des versuchten Eindringens in den Reichstag, der Bombenanschläge auf das RKI und des Mordes in Idar-Oberstein völlig klar. Ebenso klar ist, dass diese Radikalisierung unterschiedlichste Menschen erfasst hat. Dass aber organisierte Neonazis und Faschisten, Rechtsextreme von freien Kameradschaften bis zur AfD   um einmal im Duktus des Verfassungsschutzes zu bleiben   diese Bewegung maßgeblich initiiert und geprägt haben, droht aus dem Fokus zu geraten. Die Zivilgesellschaft und dort insbesondere antifaschistische Initiativen, die in den letzten Jahrzehnten beeindruckend gezeigt haben, wie sich Aufklärung und Analyse von Gefahren für die Demokratie durch öffentlich zugängliche Informationen betreiben lassen, sieht hier wesentlich klarere Bilder und vermittelt sie auch besser.

Für uns GRÜNE ist mit Blick auf die strukturellen Probleme beim Verfassungsschutz klar: Man braucht einen Neustart. Unser Modell sieht dafür erstens vor, ein weisungsunabhängiges und wissenschaftlich arbeitendes Institut zum Schutz der Verfassung zu gründen. Dieses beobachtet, analysiert und erforscht Strukturen und Zusammenhänge demokratie- und menschenfeindlicher Bestrebungen. Die Ergebnisse werden veröffentlicht und dienen den Sicherheitsbehörden als Grundlage für ihre Tätigkeiten. Daneben stehen   das unterscheidet uns als GRÜNE ganz sicher auch von der LINKEN   auf der Bundes- und auf der Landesebene entsprechend kleinere Ämter für die Abwehr von Terrorgefahren, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln arbeiten, deren Befugnisse aber umfassend gesetzlich normiert sind und deren Aufgaben sich klar von denen der Polizeibehörden abgrenzen. Ich denke, das ist etwas, was auch im Lichte der neusten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dringend notwendig ist.

Die Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden ist durch Gesetze und Verfahrensregelungen auf verfassungsrechtlich sichere Füße zu stellen. Guter Verfassungsschutz braucht außerdem bessere Kontrolle.

Die parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes ist bislang unzureichend und greift strukturell zu kurz. Sie muss weiter professionalisiert werden. Dazu braucht es insbesondere eine personell adäquat ausgestattete Geschäftsstelle des PKGr auch auf Landesebene. Zudem muss die parlamentarische Kontrolle politischen Ränkespielen entzogen werden. Die Kontrolle des Verfassungsschutzes ist Aufgabe des gesamten Parlamentes. Nur unter engen Voraussetzungen, z. B. weil eine Partei selbst Beobachtungsobjekt der Dienste ist,

(Lachen bei der AfD)

darf diese von der Kontrolle ausgeschlossen werden.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einige wenige Sätze zu den von Ihnen angesprochenen Dingen, z. B. mit Blick auf die „Letzte Generation“ sagen. Nein, das sind keine Extremisten. Das sind Leute    

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD - Markus Kurze, CDU: Das sind keine Extremisten, ich werde verrückt!)

- Nein. - Ich zitiere Herrn Haldenwang - eben wollte sich doch die CDU noch als Partei aufstellen, die den Verfassungsschutz ernst nimmt; dann tun wir das doch  , der sehr deutlich begründet hat, warum das keine Extremisten sind.

(Zurufe von der CDU und von der AfD)

Ich will an dieser Stelle aus einer Denkschrift der EKD zum zivilen Ungehorsam zitieren.

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD)

Dann erklärt sich sehr deutlich, worin der Unterschied zwischen einem Straftäter und einem Extremisten liegt und auch jemandem, der zivilen Ungehorsam leistet.

(Zuruf von Tobias Rausch, AfD)

„Eine andere Frage ist das Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe, wenn der Bürger die Entscheidung für verhängnisvoll und trotz formaler Legitimität für ethisch illegitim hält.“

(Zuruf von Andreas Schumann, CDU - Zuruf von der AfD)

- Jetzt hören Sie mir einfach mal zu!

(Zuruf von der AfD: Nein, machen wir nicht!)

Ich zitiere aus einem Synodenbeschluss:

„Wer nur einzelne politische Sachentscheidungen des Parlaments oder der Regierung bekämpft,“

(Zuruf von der CDU)

„will damit nicht das ganze System des freiheitlichen Rechtsstaates in Gefahr bringen. Sieht jemand grundlegende Rechte aller schwerwiegend verletzt und veranschlagt dies höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung,“

(Zuruf von der CDU: Ha, ha, ha!)

- jetzt hören Sie mir bis zum Ende zu! -

(Unruhe)

- hören Sie mir bis zum Ende zu! -

„so muss er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen.“

Genau darauf kommt es an: „die rechtlichen Konsequenzen zu tragen“. Ich muss das nicht gut finden, was da passiert, aber ich erkenne an, dass diese Menschen, die dort auf der Straße sind,

(Zuruf von der CDU: Auf der Straße leben!)

bereit sind, die rechtlichen Konsequenzen für ihr Tun zu tragen.

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD - Zuruf von der AfD: Das sind Terroristen!)

An dieser Stelle muss man ganz deutlich sagen: Das sind keine Extremisten. Das sind Leute, die zivilen Ungehorsam leisten.

(Zuruf von der AfD: Ziviler Ungehorsam, Sie sagen es! - Weitere Zurufe von der AfD)

Das muss man nicht richtig finden. Aber man muss anerkennen, dass an dieser Stelle auch so etwas zur Demokratie gehört.

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD)

Ziviler Ungehorsam ist ein wichtiger Bestandteil von Demokratie. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Ich sehe keine Wortmeldungen zu diesem Redebeitrag. Deswegen

(Andreas Schumann, CDU, steht am Mikrofon)

ist das jetzt eine Intervention. - Eher wäre gut gewesen. Aber Sie haben    

(Unruhe bei der CDU und bei der AfD)

Ich gebe Ihnen gern das Wort, wenn sich der Rest des Hauses beruhigt. - Bitte.


Andreas Schumann (CDU):

Aus meiner Sicht werden hier Straftaten

(Holger Hövelmann, SPD: Verharmlost!)

- genau, das ist richtig - verharmlost, weil der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr nach wie vor eine Straftat ist. Die Folgen können die Verursacher dort, wo sie so etwas ausführen, noch gar nicht

(Oliver Kirchner, AfD: Abschätzen!)

bemessen. Das kann zu Unfällen und zu persönlichen Schäden von anderen führen. Aus dem Grund halte ich die Einlassung für nicht richtig und dem Parlament nicht angemessen. - Danke schön.

(Zustimmung bei der CDU und bei der AfD)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Sie können darauf reagieren.


Sebastian Striegel (GRÜNE):

Es steht Ihnen frei, eine andere Einschätzung zu haben. Ich habe hier die EKD zitiert und halte diese Einschätzung im Hinblick auf zivilen Ungehorsam für zutreffend.

Ich will eines noch einmal deutlich sagen: Ich mache mir diese Protestform nicht zu eigen.

(Zuruf von der AfD: Nein, absolut nicht!)

Aber ich halte es für ausdrücklich richtig,

(Markus Kurze, CDU: Das erzählen Sie mal den Opfern!)

dass in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat auch ziviler Ungehorsam    

(Markus Kurze, CDU: Und dass der Rettungsdienst nicht durchkommt! Es ist schlimm, dass Sie das im Parlament vortragen!)

- Und dafür brauchen wir bessere Radwege, Herr Kurze.

(Zurufe von Markus Kurze, CDU)

- Herr Kurze, dafür brauchen wir eine bessere Radinfrastruktur,

(Zurufe von Markus Kurze, CDU - Zurufe von der AfD - Unruhe)

wie sie Ihre Partei seit Jahren verhindert.

(Zurufe von der CDU und von der AfD - Unruhe)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Werte Kolleginnen und Kollegen!

(Unruhe)


Sebastian Striegel (GRÜNE):

Ihnen sind tote Radfahrer doch nur ein Anliegen an dieser Stelle; sie spielen an anderer Stelle keine Rolle.


Vizepräsident Wulf Gallert:

An der Stelle: Stopp!

(Zuruf von Markus Kurze, CDU - Unruhe)


Sebastian Striegel (GRÜNE):

Herr Kurze, Ihnen sind tote Radfahrer doch egal, solange sie nicht im Aufstand der „Letzten Generation“ auftauchen.

(Unruhe)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Herr Striegel, Stopp!

(Zuruf von Markus Kurze, CDU)

- Herr Kurze, es ist gut! - Jetzt kriegen wir uns alle wieder ein; denn egal, worüber Sie sich hier unterhalten: In dieser Art und Weise bekommt es ein Dritter nicht mehr mit. Erstens bitte ich jetzt ausdrücklich darum, ein bisschen runterzufahren, und zweitens ist die Frage beantwortet. Damit sind wir am Ende dieses Redebeitrages angelangt. Es folgt Kollege Schulenburg.

Ich bitte wirklich darum - das war heute nicht die erste Situation -, die Maßstäbe, die man in Bezug auf Toleranz für sich in Anspruch nimmt, auch den anderen zuzubilligen.

(Tobias Rausch, AfD: Der schreit doch nur dazwischen! - Unruhe)

Einen Moment, Herr Schulenburg. - Wissen Sie, Herr Rausch, das war wieder genau auf den Punkt. Herr Siegmund hat vorhin Herrn Striegel aufgrund permanenter Zwischenrufe

(Ulrich Siegmund, AfD: Ja!)

mit einem Wort charakterisiert, das ich als nicht parlamentszugehörig empfinde. Wenn - das meinte ich damit - die gleichen Kriterien, die Ihr Fraktionsvorsitzender gegenüber Herrn Striegel bei der Beurteilung hier anbietet, auf Sie zutreffen würden,

(Tobias Rausch, AfD: Wir haben nicht dazwischengerufen!)

dann müsste ich nach den Zwischenrufen, die Sie heute bereits getätigt haben, auch in einer Art und Weise reagieren, was ich aber aufgrund von Parlamentsgepflogenheiten nicht tue. Ich bitte all diejenigen, die sich über das Verhalten der anderen aufregen, ihr eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen. Das ist meine Bitte, damit wir heute hier gut durchkommen. - Danke.

(Zustimmung bei der LINKEN - Zuruf von Tobias Rausch, AfD)