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Plenarsitzung

Transkript

Tagesordnungspunkt 25

Beratung

Perspektiven für geflüchtete Menschen - „Chancen-Aufenthaltsrecht“ auch in Sachsen-Anhalt regeln

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/1268


Einbringen wird den Antrag die Abg. Frau Quade.


Henriette Quade (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Herr Dr. Tillschneider, Sie irren sich, wenn Sie von einer Verunehrung sprechen. Die Verunehrung gilt Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN - Tobias Rausch, AfD: Reden Sie zur Sache! - Weitere Zurufe von der AfD)

Meine Damen und Herren! Viel ist die Rede von einer Zeitenwende und, ja, auch im Aufenthaltsrecht und der Integrationspolitik erleben wir eine solche. Der Staat zeigt mit der unkomplizierten, liberalen und an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierten Aufnahmepolitik für Ukrainerinnen und Ukrainer, was er kann. Das begrüßen und unterstützen wir ausdrücklich. Was wir kritisieren, ist: Der Staat zeigt damit auch, wem er dringend notwendige Schritte wie Arbeitserlaubnisse, das Recht auf Freizügigkeit und das ganz grundsätzliche Recht zu bleiben absichtlich vorenthält. Statt Geflüchtete 1. und 2. Klasse zu manifestieren, wäre es nötig, die grundsätzliche gute und richtige Politik für Ukrainerinnen als Vorbild für eine grundlegende Humanisierung des Aufenthaltsrechts zu nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Davon sind wir meilenweit entfernt. Auch das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht hat damit wenig zu tun. Warum es dennoch ein Schritt in die richtige Richtung und dringend nötig ist und warum wir die von uns beantragten Vorgriffsregelungen schnellstmöglich brauchen, wird schnell klar, wenn wir auf die aktuellen Meldungen aus Magdeburg schauen. Hier wurden gestern offenbar zwei junge Frauen, die seit mehr als elf Jahren hier leben, abgeschoben, obwohl über ihre Widersprüche und Anträge   zumindest in einem Fall   noch nicht entschieden wurde,

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

obwohl sie nach dem erklärten Willen der Bundesregierung in wenigen Monaten die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen hätten. Das, meine Damen und Herren, ist ein unfassbarer Vorgang,

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Nein, nein, das ist schon richtig so!)

der nicht nur aufgearbeitet werden muss, sondern auch aufgehalten werden muss.

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD: Alles richtig gemacht! - Oliver Kirchner, AfD: Ja, das ist Rechtsstaatlichkeit!)

Frau Ministerin, Sie sagen, ein Chancen-Aufenthaltsrecht wäre das völlig falsche Signal - die Alternative dazu ist genau das, was den jungen Frauen und ihren Familien in Magdeburg passiert ist. Wenn Sie sagen, das Chancen-Aufenthaltsrecht ist das falsche Signal, dann sagen Sie, das, was ihnen passiert ist, sei das richtige Signal.

(Beifall bei der LINKEN)

So unfassbar es ist, es ist absolut kein Einzelfall - im Gegenteil. Engagierte und Betroffene beobachten seit Monaten, dass die Abschiebeaktivitäten zunehmen

(Beifall bei der AfD)

und dass insbesondere diejenigen darunter leiden müssen   Frau Ministerin, das war Ihr Applaus  ,

(Oliver Kirchner, AfD: Noch viel zu wenige!)

die von den von der Bundesregierung angekündigten und mittlerweile schon als Gesetzentwurf vorliegenden Neuregelungen profitieren könnten.

Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird.

(Zuruf von der AfD: Wir nicht!)

Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Mit einer aktiven und ordnenden Politik wollen wir Migration vorausschauend und realistisch gestalten.

(Daniel Rausch, AfD: In die Sozialsysteme, ja!)

So ist es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung formuliert. Und gerade in Sachsen-Anhalt wäre das dringend nötig. Denn es ist doch absurd: Sachsen-Anhalt ist in besonderem Maße auf Zuwanderung angewiesen.

(Felix Zietmann, AfD: Aber nicht in die Sozialsysteme!)

Wir haben in etlichen Bereichen mit einem Fachkräftemangel, mit einem Mangel an Azubis und mit dem Aussterben von ganzen Gegenden zu kämpfen.

(Zuruf von Frank Otto Lizureck, AfD)

Herr Silbersack hat heute Vormittag noch einmal eindrücklich darauf hingewiesen. Gleichzeitig verweigern wir Menschen, die seit Jahren hier leben und die trotz widriger Bedingungen das getan haben, was immer und immer wieder mit großer Härte verlangt wird   spannenderweise übrigens besonders heftig von denen, die die Hürden dafür besonders hoch legen wollen  , nämlich sich zu integrieren, die Chance, dauerhaft und rechtmäßig hier zu leben, Teil dieser Gesellschaft zu werden und dabei eben auch etwas an die Gesellschaft zurückzugeben.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der AfD)

Die praktische Folge ist neben einem immensen Verwaltungsaufwand, dass durch die fehlenden Möglichkeiten der dauerhaften Legalisierung des Aufenthaltes Entscheidungen getroffen werden, die nicht nur subjektiv ungerecht sind, sondern die auch nicht im Interesse des Landes sein können, weil sie bedeuten, dass Menschen, die als Krankenpflegerin, als Lehrerin, als Handwerkerin arbeiten wollten und könnten, nicht die Chance dazu bekommen,

(Beifall bei der LINKEN)

z. B. weil kein Pass beschaffbar ist. Das ist übrigens eine Stelle, wo sehr, sehr viel Bürokratie greift. Da ist die iranische Lehrerin, die nicht arbeiten darf, weil sie zwar eine Geburtsurkunde hat, aber keinen Pass. Das hat auch nichts mit Täuschung bei der Identitätsfeststellung zu tun,

(Zurufe von der AfD: Nein!)

sondern schlichtweg mit den Bedingungen der Flucht aus einer Diktatur.

(Zuruf von der AfD: Ja, natürlich! - Daniel Rausch, AfD: Aber das Handy hat sie eingepackt!)

Da ist der Auszubildende, der als unbegleiteter Minderjähriger geduldet wurde, aber fürchten muss, abgeschoben zu werden, sobald er volljährig ist. Da sind der Ingenieur und die Ärztin,

(Zurufe von der AfD: Ja, ja! - Das ist der Regelfall!)

die als Fachkräfte aus einem europäischen Land mit viel Aufwand angeworben werden sollen, die aber, weil sie aus dem falschen Land kommen, keinen dauerhaften Aufenthaltstitel und auch keine Arbeitserlaubnis bekommen.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Genau hier setzt das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht der Bundesregierung an.

(Beifall bei der LINKEN)

Und es wird von nahezu allen Expertinnen in Sachen Migration und Integration und von den Fachverbänden ausdrücklich als überfällig begrüßt und   das ist nach 16 Jahren CDU in der Tat neu   es erkennt erstmals an, dass die Politik der Restriktion   ob man das nun bedauert oder nicht   nicht zu weniger Migration führt.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Sie führt nicht dazu, dass die Leute nicht hierher kommen, und damit müssen wir umgehen.

Für gut integrierte Menschen soll es Erleichterungen geben und die Mindestanforderungen für die Aufenthaltszeit sollen gesenkt werden. Möglichkeiten für gut integrierte Jugendliche sollen geschaffen werden, besondere Integrationsleistungen, die zur Chance auf ein Bleiberecht führen. Die elende Praxis der Kettenduldung soll zumindest teilweise überwunden werden. Wer zum Stichtag 1. Januar 2022 fünf Jahre hier lebt, nicht straffällig geworden ist und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, der soll eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht erfüllen zu können. Arbeitsverbote für bereits in Deutschland lebende Menschen sollen abgeschafft werden.

Das hat mit der umfassenden Liberalisierung des Aufenthaltsrechts wirklich nichts tun, aber es ist ein Anfang, um es rationaler, um es übersichtlicher zu machen, von unnötigem Verwaltungsaufwand zu befreien und der Realität eines Einwanderungslandes anzupassen.

Das, worum es mit unserem Antrag heute, trotz sehr vieler einzelner Antragspunkte, geht, ist etwas ganz Einfaches: Wir wollen sicherstellen, dass Menschen, die unter die im Koalitionsvertrag auf der Bundesebene angekündigten Neuregelungen fallen, nicht kurz vor deren Inkrafttreten noch abgeschoben werden. Wir wollen sicherstellen, dass so etwas wie in Magdeburg nicht mehr passiert.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)

Und wir wollen sicherstellen, dass die Rechte derjenigen, die auf das Handeln der Ausländerbehörden angewiesen sind, gewahrt werden. Ganz offensichtlich ist das reihenweise nicht der Fall. Denn zu der Grunderfahrung der Betroffenen, nämlich dass der erhebliche Ermessensspielraum, der bei den Ausländerbehörden durchaus besteht, nur im absoluten Ausnahmefall im Sinne der Betroffenen genutzt wird, kommt aktuell noch hinzu, dass die Ausländerbehörden zwar fleißig abschieben, für die Belange derjenigen, die von ihren Entscheidungen abhängen, aber schlichtweg nicht erreichbar sind.

Im Februar wurde z. B. bei einer Kundgebung vor der Ausländerbehörde in Halle eindrucksvoll deutlich gemacht, wie unhaltbar die Zustände sind. Da werden Anrufe nicht entgegengenommen. Da werden E Mails nicht beantwortet. Da ist es unmöglich, einen Termin zu vereinbaren. Da werden Anträge über Monate nicht bearbeitet und da bleiben dringende Anfragen einfach unbeantwortet. Und das ist nicht nur in Halle so. Dieselben Berichte gibt es für Wittenberg und für Magdeburg.

Das hat gravierende Folgen. Ich kenne Menschen, die ihren Job und ihre Wohnung verloren haben, weil es nicht möglich war, rechtzeitig eine Verlängerung des Aufenthaltstitels von der Ausländerbehörde zu bekommen. Und nein, das liegt nicht nur an der Pandemie, das liegt an einem strukturellen Problem. Die Betroffenen haben nicht die Lobby, die sie brauchten. Es gibt kaum einen Rechtsbereich, der dermaßen überreguliert und restriktiv ist wie das Ausländerrecht. Politisch und praktisch sind die Ausländerbehörden zu allererst Abschiebe- und Integrationsverhinderungsbehörden.

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der AfD: Schön wär‘s!)

Genau das muss sich dringend ändern. Das wird nur mit einem wirklichen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik gelingen und mit einem Umbau der Ausländerbehörden zu Servicestellen.

Unser Antrag will zu allererst die eklatanten akuten Missstände beheben und dafür sorgen, dass die Behörde ihrer Verpflichtung und ihrem Auftrag nachkommt. In Bezug auf das Chancen-Aufenthaltsrecht wollen wir Ermessen lenken - nicht irgendwie, nicht nach besonders linken Kriterien, sondern   entsprechend unserem Antrag   anhand der Kriterien, die die Bundesregierung und damit auch zwei Regierungsparteien in Sachsen-Anhalt angelegt haben und denen bereits sechs Bundesländer mit entsprechenden Anordnungen vorgreifen - nicht mehr und nicht weniger. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜNE, und von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)