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Plenarsitzung

Transkript

Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Kindheit und die Jugendphase sind entscheidend für ein gutes Leben als Ganzes. Kinder sollen spielen und Spaß haben und Jugendliche sich ausprobieren und möglichst sorgenfrei leben können. Nicht zuletzt brauchen Kinder und Jugendliche Zeit und Energie für ihre Bildung. Dafür brauchen sie im Idealfall eine starke Familie, die sie unterstützt und ihnen Wurzeln und Flügel gibt.

Manchmal ist das nicht möglich. Wenn Eltern oder Großeltern krank werden, dann sind es bisweilen auch die Kinder, die ihre Aufgaben im Familiengefüge übernehmen. Das reicht von Einkauf und Haushalt über die Gänge zum Amt bis zur Organisation des Familienalltags und die Versorgung der Geschwister. All das machen Young Carer.

Auch die Pflege des kranken Familienmitglieds wird mitunter von diesen jungen Sorgenden übernommen. Das sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die einen oder mehrere Angehörige umsorgen und pflegen. Oft sind sie die Stütze der Familie, insbesondere dann, wenn es nur ein Elternteil gibt oder wenn das andere beruflich zu stark eingespannt ist.

Diesen Kindern und Jugendlichen fehlt nicht nur der Schutz eines umsorgenden Familienhaushalts, nein, sie selbst müssen dieses Umfeld schaffen und viel zu früh eine riesige Verantwortung tragen. Sie müssen auf Spielen, darauf, Freunde zu treffen, auf Party und auch auf ausreichend Zeit zum Lernen weitgehend verzichten. Sie müssen als Pflegende einen Job machen, der schon viele Erwachsene an die Grenze ihrer Kräfte führt.

Der im Antrag formulierte Dank an die jungen Menschen im Land für eine solche Verantwortungsübernahme bei der Betreuung und Versorgung kranker oder pflegebedürftiger Angehöriger ist natürlich ambivalent. So wertvoll familiäre Unterstützung und die Sorge umeinander begrüßenswert ist, so klar ist eben auch, Minderjährige können mit dieser Verantwortungsübernahme schnell überfordert sein.

Eigene Bedürfnisse und Bedarfe und natürlich insbesondere ihre Entwicklungschancen können dadurch leicht aus dem Blick geraten und sind gefährdet. Problematisch wird die Situation, wenn sich durch die Betreuung und Pflege eine Parentifizierungsdynamik einstellt, also ein Rollentausch von Eltern und Kind, bei dem das Kind zunehmend elterliche Aufgaben erfüllen muss.

Im Falle einer milderen oder nur vorübergehenden Parentifizierung kann dies dem Kind zu einem erhöhten Selbstwertgefühl, zu mehr Eigenständigkeit und zu größerem Verantwortungsgefühl verhelfen. In schweren und umfangreichen Fällen können als Langzeitfolgen geringerer Selbstwert, Ablösungs- und Identitätsprobleme, Depressionen bis hin zu Suizidtendenzen auftreten. Das sagt die psychologische Literatur dazu. Umso wichtiger sind deshalb besondere Unterstützungs- und Beratungsangebote für minderjährige Pflegende. Daran mangelt es offensichtlich. Dieser Mangel fängt bei der Datenlage an.

Der Sachstand hat sich seit der Kleinen Anfrage meiner Kollegin Conny Lüddemann im November 2018 zu diesem Thema nicht geändert. Noch gibt es in Sachsen-Anhalt nur Schätzwerte aufgrund allgemeiner Studien und Erhebungen.

Bestehende Unterstützungs- und Beratungsangebote sind für minderjährige Pflegende auch offen, aber spezifische Angebote für diese Gruppe sind in Sachsen-Anhalt lange zu suchen und kaum zu finden.

Das Problem Young Carer liegt also weitgehend im Dunkeln, aber es ist individuell ein großes und beeinträchtigendes Problem, eine große und beeinträchtigende Aufgabe. Sie braucht Aufmerksamkeit und Unterstützung durch unsere Gesellschaft.

Wir können nun in andere Bundesländer, etwa nach Bayern, schauen und die sehr umfänglichen Anträge bspw. der Fraktion der GRÜNEN in den vergangenen Jahren aufgreifen und hätten heute Maßnahmen fordern können im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit für Young Carer, um überhaupt erst einmal über die Existenz dieser Gruppe zu informieren und für ihre Bedarfe zu sensibilisieren. Weiterhin sind Maßnahmen anzuführen wie die Schaffung eines spezifischen Onlineangebots zur direkten Ansprache dieser jungen Menschen, den Aufbau einer Fachstelle für Young Carer, die Bereitstellung psychologischer Hilfen, ein Projekt zur Sensibilisierung für den Umgang mit Young Carern in der Schule und ein regelhaftes Monitoring zum Komplex Young Carer. All das haben unsere Kollegen in Bayern kürzlich in parlamentarischen Initiativen besprochen.

Wir GRÜNEN in Sachsen-Anhalt sind überzeugt, für die zielgenaue Entwicklung von Maßnahmen zur Unterstützung in Sachsen-Anhalt müssen wir das Thema zunächst empirisch vermessen. Der Rahmen des demnächst anstehenden Kinder- und Jugendberichtes erscheint uns dafür gut geeignet, inhaltlich, und weil er eine zeitnahe Erhebung ermöglicht. Bei dessen Erstellung soll eine gesonderte Betrachtung zum Phänomen Young Carer erfolgen, um, daraus ableitend, passgenau landesspezifische Maßnahmen zu entwickeln.

Ergänzend zu der Erfassung der Situation im Land und den sich daraus ableitenden entsprechenden Maßnahmen ist die Weiterentwicklung der Sozialgesetzbücher   das wurde bereits angesprochen   eine konkrete und im Moment notwendige Forderung.

Leben in einem Haushalt Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren, werden die Kosten für Haushaltshilfen im Krankheitsfall von den Krankenkassen übernommen. Doch auch für Jugendliche über zwölf Jahren sind die gleichzeitige Pflege von Angehörigen, die Versorgung des Haushaltes und der Besuch der Schule sowie von Freizeitaktivitäten mehr als herausfordernd. Insbesondere im Fall einer kurzfristigen, akuten Erkrankung, bei denen das Familienmitglied von einem Moment auf den nächsten erkrankt und möglicherweise sogar stationär behandelt werden muss, werden die Young Carer über zwölf Jahren derzeit mit ihrem Bedarf an Unterstützung im Haushalt und im Alltagsleben alleingelassen. Denn sie haben keinen Anspruch auf eine Haushaltshilfe nach § 38 SGB VIII.

Vor diesem Hintergrund fordern wir die Landesregierung auf, sich auf der Bundesebene und in den entsprechenden Fachministerkonferenzen für eine Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen einzusetzen. Die an dieser Stelle normierte Altersgrenze muss im Interesse der Jugendlichen heraufgesetzt und die mögliche Höchstdauer eines Leistungsbezuges erhöht werden.

Bei dem Begutachtungsinstrument zu der Feststellung eines Pflegegrades spielt der Erziehungsauftrag der oder des zu Pflegenden bisher keine Rolle. Es wird bspw. geprüft, inwieweit eine Person in der Lage ist, sich selbst anzukleiden, sich zu ernähren, sich zu waschen, um den Hilfebedarf zu ermitteln. Ob die Person ihrem Erziehungsauftrag etwa in Form des Bekleidens der eigenen Kinder gerecht werden kann, wird nicht geprüft, weil es nicht Bestandteil der gesetzlichen Vorgaben ist. Es ist also zu prüfen, inwieweit auch § 14 Abs. 2 SGB XI zu ändern ist, also ob man diesen Paragrafen um den Erziehungsauftrag ergänzen kann und sollte, um auch an dieser Stelle der besonderen Situation von hilfe- und pflegebedürftigen Eltern und ihren Kindern gerecht zu werden.

Die Prüfung und die Diskussion darüber sind sicherlich im Rahmen der Gesundheitsministerkonferenz wie auch der Jugend- und Familienministerkonferenz zu führen und entsprechende Vorschläge sind dann der Bundesregierung vorzulegen.

Beide Anliegen, sowohl die Fokussierung auf das Thema Young Carer im Kinder- und Jugendbericht des Landes als auch der Arbeits- und Antragsvorgang in den Fachministerkonferenzen, sind natürlich mittel- und langfristige Zielstellungen und werden weder heute noch morgen   das meine ich tatsächlich buchstäblich   die Situation pflegender Minderjähriger signifikant verbessern.

Aber auf der Ebene der Landespolitik sind es dann eben doch meistens zur Genüge   das wissen wir alle   die sprichwörtlichen dicken Bretter, die es ausdauernd zu bohren gilt, wenn man etwas verändern möchte.

Aber zumindest so viel können wir heute und von diesem Punkt an senden: Fühlen Sie sich, fühlt ihr euch gesehen! Minderjährige Pflegende rücken von heute an, wenn sich eine entsprechende Mehrheit für unseren Antrag findet, in den Fokus der Landespolitik in Sachsen-Anhalt. - Dafür vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung von Dr. Heide Richter-Airijoki, SPD)