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Plenarsitzung

Transkript

Xenia Sabrina Kühn (CDU): 

Vielen Dank, sehr geehrter Herr Landtagspräsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema dieser aktuellen Debatte ist aufgrund der Kündigung des Landesrahmenvertrages durch das Ministerium des Sozialen vor einem Jahr aktueller und wichtiger denn je. Deswegen bedanke ich mich, dass wir das Thema heute hier beleuchten.

(Zustimmung von Nicole Anger, Die Linke)

Zunächst möchte ich jedoch das Deutsche Institut für Menschenrechte zitieren: 

„Das ,Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. […] Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-BRK am 24. Februar 2009 ratifiziert. Nach den Regularien der Konvention trat sie am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft und ist seitdem geltendes Recht in Deutschland, welches von allen staatlichen Stellen umgesetzt werden muss. 

Die UN-BRK ist keine Spezialkonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sondern sie konkretisiert die bereits anerkannten allgemeinen Menschenrechte aus anderen Menschenrechtsübereinkommen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen. Hintergrund für das Entstehen der Konvention war die weltweite Erfahrung, dass Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend vor Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt worden sind - und immer noch werden.“ 

So viel zu den Grundlagen. 

Durch die Ratifizierung im Jahr 2009 hat sich Deutschland, und damit auch Sachsen-Anhalt, zur Umsetzung verpflichtet. Aber wie weit sind wir gekommen? - Werkstätten für Menschen mit Behinderungen mit angeschlossenem Wohnheim gibt es bereits seit vielen Jahrzehnten. Bereits mit der Deinstitutionalisierung in den 1970er-Jahren bzw. Anfang der 1980er-Jahre wurde die aufkommende Kritik an Heimen mit einer Suche nach alternativen Wohn- und Versorgungsformen verbunden. Es entstanden unter anderem die ambulant betreuten Wohngemeinschaften.

Mit der schrittweisen Einführung des Bundesteilhabegesetzes in den Jahren 2019 bis 2023 sollte den Menschen mit Behinderungen erneut die Möglichkeit gegeben werden, ihrem Wunsch- und Wahlrecht mehr Ausdruck zu verschaffen. Ihnen sollte die Möglichkeit zu mehr eigenständigem Handeln gegeben werden. Erneut ist die Rede von Deinstitutionalisierung - kurz gesagt: raus aus den Werkstätten und weg von den Wohnheimstrukturen.

(Zustimmung bei der CDU)

Auf den ersten Blick ist das ein schöner Ansatz. Auf der anderen Seite sollte man aber auch akzeptieren, dass sich die Menschen in den Werkstätten wohlfühlen und gerne dort arbeiten.

(Zustimmung bei der CDU)

Man sollte auch so realistisch sein und sich eingestehen, dass die wenigsten Menschen, die vorher in einer Werkstatt tätig waren, dauerhaft auf dem ersten Arbeitsmarkt bestehen.

(Zustimmung bei der CDU)

Die Gründe hierfür sind vielfältig. Hauptgrund sind jedoch die Anforderungen in der Arbeitswelt: Termindruck, Aufgabenfülle oder ganz einfach der Kontakt mit anderen Menschen. Nicht jeder ist bereit, auf sein Gegenüber einzugehen und ihn zu unterstützen. 

Im Wohnbereich ist es ähnlich. Die Menschen haben in den Wohnformen Anschluss und sie sind unter ihresgleichen. Sie haben ähnliche Sorgen und Nöte. Sie befinden sich in ihrer eigenen Komfortzone, wo sie sein können, wie sie sind, wo sie sich austauschen können. Ich finde es daher anmaßend zu sagen, dass die Werkstätten die Leute nicht gehen lassen oder dass Betreuer diese nicht unterstützen. 

(Zustimmung bei der CDU)

Wer den Weg in die Selbstständigkeit gehen möchte, der wird grundsätzlich unterstützt. Nur sollte man die Menschen auch nicht überfordern und, sofern möglich und nötig, vor sich selbst schützen. Eine Deinstitutionalisierung auf Biegen und Brechen sollte daher nicht das Ziel sein. 

Am vergangenen Samstag - es ist bereits mehrfach erwähnt worden - fand die 113. Sitzung des Landesbehindertenbeirates statt. Ein Thema war unter anderem der Zwischenbericht zur Umsetzung von Teilhabe. Es wurde auf viele Förderprogramme verwiesen, aber leider wurde nicht erkennbar, wie viel Geld in den letzten Jahren tatsächlich für barrierearmes und, was noch viel wichtiger ist, für barrierefreies Wohnen ausgegeben wurde. An dieser Stelle muss bis zur Fertigstellung des Berichts noch genauer unterschieden und mit konkreten Zahlen gearbeitet werden. 

Es wurde jedoch bereits deutlich: Barrierearmer - wir sprechen noch nicht einmal von barrierefreiem - Wohnraum ist, wenn vorhanden, teuer. Früher wurde den Leistungserbringern die Schaffung von neuem Wohnraum, salopp gesagt, bezahlt. Mit der Einführung des BTHG wurde die Erbringer zu Vermietern und müssen nunmehr die Schaffung und Sanierung von Wohnraum selbst finanzieren. Im Nachgang schließen sie dann Mietverträge ab, wie auf dem Wohnungsmarkt üblich. So weit, so gut oder halt auch nicht. 

Weitestgehend unberücksichtigt bleibt der Umstand, dass ein Großteil der Menschen mit Behinderung auf Grundsicherungsleistungen angewiesen ist und die jeweiligen Richtlinien über die Kosten der Unterkunft, kurz KdU, gelten. Aber bereits die Sanierung bzw. der Umbau im Bestand hin zu barrierefrei oder barrierearm erzeugt viel mehr Kosten, als durch die gedeckelten Mieten eingenommen werden kann. Von Neubauten müssen wir erst gar nicht reden. 

Die Entwicklung der Baukostenpreise und der Baufinanzierungszinsen sind hinlänglich bekannt. Sie steigen seit Jahren steil nach oben. Es müssten Nettokaltmieten von 8 € bis 9 € je Quadratmeter verlangt werden. Das liegt weit über den Vorgaben der KdU-Richtlinien. Kein wirtschaftlich denkender Bauherr geht ein solches Risiko ein und keine Bank finanziert ein solches Projekt. 

(Zustimmung von Kerstin Godenrath, CDU, und von Guido Kosmehl, FDP)

Das hat zur Konsequenz, dass entweder die Schaffung des Wohnraums staatlich unterstützt werden muss oder die Mehrkosten für solche Wohnungen im angemessenen Rahmen von den Sozialämtern übernommen werden müssen. Die vorhandenen 125 %, die gezahlt werden, reichen dafür nicht aus und würden zudem eine bessere finanzielle Ausstattung der Ämter erfordern. Wir drehen uns daher an dieser Stelle im Kreis.

Nun ein paar Ausführungen zum täglichen Leben, auch aus meiner beruflichen Perspektive als Betreuerin. Ja, es sind Fortschritte erkennbar, aber von einer alltäglichen, lebensnahen Umsetzung für Menschen mit Behinderung ist Sachsen-Anhalt und, ich würde sogar sagen, Deutschland weit entfernt. 

Wie eine solche gute Umsetzung aussehen kann, durfte ich vor wenigen Wochen in Barcelona erleben. Über Jahrzehnte hinweg haben dort die zuständigen Stellen bewusst zusammengewirkt und gute Lebensbedingungen für Bewohner im Allgemeinen, aber auch für Menschen mit Behinderung geschaffen: Abgesenkte Bordsteine, barrierefreie Einstiege für die Busse, funktionierende Fahrstühle an den U-Bahn- und Metrostationen, barrierefreier Zugang zum Strand und selbst die Hotels sind verpflichtet, im Pool absenkbare Sitze zum Einlassen ins Wasser zu installieren. 

Es kann also funktionieren, wenn alle Beteiligten gewillt sind. Wenn bei der Umsetzung keine neuen Probleme geschaffen, sondern lebenspraktische Lösungen gefunden werden. Von daher möchte ich noch ein großes Lob und ein noch größeres Dankeschön an alle Einrichtungen, ihre Mitarbeiter und Vereine und alle sonstigen Wirkungsstätten richten, die die Menschen mit Beeinträchtigungen täglich begleiten und unterstützen.

(Beifall bei der CDU)

Mein Dank geht auch an den Allgemeinen Behindertenverband Sachsen-Anhalt und an den Landesbehindertenbeirat Sachsen-Anhalt. 

(Zustimmung bei der CDU)

Durch ihre Arbeit, durch ihre Beharrlichkeit und durch ihren Input werden Fortschritte erzielt und die Menschen mit Behinderung werden gesehen. - Danke. 

(Beifall bei der CDU)

Ganz zum Schluss muss ich noch etwas - wie sollte es anders sein? - zum Landesrahmenvertrag sagen; denn dieser ist mir noch wichtig. Die Kündigung vor einem Jahr, um die Einrichtung zu Verhandlungen - ich sage es einmal nett - zu bewegen, war ein Fehler. Die Hängepartie, die aktuell vorherrscht, vor allem, weil die tarifgebundenen Löhne nicht erstattet werden, bringt eine Vielzahl von Einrichtungen in schwere finanzielle Nöte. 

Ich kann an dieser Stelle nur hoffen, dass alle Einrichtungen überleben. Diese Einrichtungen übernehmen staatliche Aufgaben. Das sollte man an dieser Stelle nicht vergessen. Ich möchte mir nicht einmal ausmalen, was passiert, wenn Insolvenzverfahren eröffnet werden und sich keine Lösung findet. Schon jetzt nehmen die Einrichtungen aufgrund der unklaren Lage keine Menschen mit Behinderung mehr auf. Die gewünschte Modularisierung passt schlichtweg nicht in die Lebenswelt. Sie sollte aufgeweicht werden, um weiterhin die Unterstützung und Betreuung der Menschen zu gewährleisten. 

Diesbezüglich gibt es noch eine Vielzahl weiterer Themen, die wir aber regelmäßig im Ausschuss und auch hier im Plenum besprechen; deswegen komme ich jetzt auch zum Schluss. Es wurden bereits diverse Fortschritte für die Menschen mit Behinderung erreicht. Bis hierhin war es ein langer Weg und dieser Weg ist noch lange nicht beendet. Aber die Gesellschaft muss sich für diese Menschen öffnen und sich trauen, sie in ihr tägliches Leben zu lassen; denn anders ist normal. - Danke schön. 

(Beifall bei der CDU)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Frau Kühn, es gibt eine Frage von Herrn Silbersack. Wollen Sie sie beantworten? 


Xenia Sabrina Kühn (CDU): 

Gern. 


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Dann los, Herr Silbersack. 


Andreas Silbersack (FDP): 

Vielen Dank für die wirklich sehr guten Ausführungen, die von tiefer Sachkenntnis zeugen. Ich habe eine Frage, die die Eingliederungshilfe betrifft. Wir haben uns in Sachsen-Anhalt jetzt relativ spät auf den Weg gemacht, um die Ambulantisierung voranzutreiben. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass sich eine stationäre Einrichtung auf den Weg zur Ambulantisierung machen sollte, jedenfalls keinen betriebswirtschaftlichen. 

Können Sie mir Motivationsgründe ambulanter Einrichtungen nennen, warum sie dies trotzdem tun sollten, und wie können wir dies als Politik unterstützen?


Xenia Sabrina Kühn (CDU): 

Ich gebe Ihnen grundsätzlich darin recht, dass das Halten im Verbund effizienter und kostengünstiger ist. Aber ich weiß von den Menschen, die dort arbeiten, dass sie wirklich alles tun, um dem Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung nachzukommen. Man möchte ihnen ermöglichen, so selbstständig wie möglich zu wohnen, sofern es geht. 

Wir haben in der flächenmäßig großen Altmark das große Problem - das mag in Halle funktionieren, es mag in Magdeburg funktionieren - der wahnsinnig weiten Fahrtwege, wenn sich alle eine eigene Wohnung nehmen. Zudem ist das Personal im ambulanten Bereich nicht vorhanden, um diesen wirklich vorhandenen großen Bedarf abzudecken und wir haben den Wohnraum schlichtweg nicht. 

Eine Person mit einer Einschränkung braucht im Regelfall eine größere Wohnung, diese wird dann aber nicht von den KdU-Richtlinien gedeckt. Zudem befinden sich diese Wohnungen vielleicht nicht in den schönsten Wohngegenden, was dazu führt, dass die Menschen höchstwahrscheinlich wieder „unter die Räder“ kommen. An dieser Stelle wirken sehr viele Faktoren zusammen. 

Man macht sich auf den Weg, das muss ich sagen. Die Einrichtungen machen wirklich viel mit und lassen sich viel einfallen, aber es ist wirklich ein schwieriger Weg, dorthin zu kommen. - Danke.