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Plenarsitzung

Transkript

Wulf Gallert (Die Linke): 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will einen Gedanken einbringen, der vielleicht den einen oder anderen hier überraschen wird, und zwar glaube ich, dass diese Debatte und die vorhergehende Debatte eine gewisse Parallele aufweisen.

(Eva von Angern, Die Linke: Das stimmt!)

Vorhin, als wir über Schwangerschaftsabbrüche und -austragungen geredet haben, hatten wir ein Publikum, das überwiegend aus Männern bestand, die größte Personengruppe im Auditorium wusste also nicht wirklich etwas darüber. Jetzt haben wir eine ähnliche Situation: Ich glaube, die meisten, die hier sitzen, können und wollen sich in ihrem Leben die Lebensrealität eines Bürgergeldempfängers weder vorstellen noch können sie sich in diese hineinversetzen. Ich sage einmal ganz deutlich: Ich habe manchmal übrigens sogar das Problem, dass selbst diejenigen, die das schon erlebt haben, heute, wenn sie Politiker sind, über Menschen in dieser Situation in einer Weise reden,

(Eva von Angern, Die Linke: Ja! Abfällig!)

die extrem abfällig und entwürdigend ist.

(Beifall bei der Linken)

Insofern sage ich mit aller Deutlichkeit: Holger Hövelmann, ich freue mich über diese Debatte. Ich freue mich über diese Debatte, weil sie einen ganz, ganz wichtigen Kontrapunkt zu einem gesellschaftlichen Mainstream setzt, bei dem wir alle gerade Zeuge werden. Dabei unterscheiden sich die Politiker von der AfD und die Politiker von der CDU - auf der Landesebene kann ich das nicht so beurteilen - auf der Bundesebene kaum.

(Zuruf von Ulrich Siegmund, AfD)

Ob ich einen Herrn Siegmund höre, wie er über Bürgergeldempfänger redet, oder ob ich einen Herrn Linnemann von der CDU höre: Dazwischen passt kein Blatt Papier mehr. Ich sage    

(Ulrich Siegmund, AfD: Ich will nicht mit denen in Verbindung gebracht werden!)

- Na ja, er erzählt trotzdem dasselbe wie Sie.

(Olaf Meister, GRÜNE, lacht)

Möglicherweise    

(Zuruf von Ulrich Siegmund, AfD)

- Herr Siegmund, ich will gar nicht ausschließen, dass Herr Linnemann deswegen dasselbe erzählt, weil Sie inzwischen die politische Meinungsführerkraft in diesem Spektrum errungen haben.

(Zuruf von Ulrich Siegmund, AfD)

Das will ich gar nicht ausschließen. - Ich sage ganz klar: Vieles, was ich von CDU-Funktionären inzwischen zu diesem Thema höre, ist das, was die AfD vor ein oder zwei Jahren zu diesem Thema vorgegeben hat. 

(Beifall bei der Linken)

Das ist ein Problem; das ist ein Riesenproblem. Ich will klar sagen: Das betrifft nicht nur das Problem des Bürgergeldes, sondern das betrifft auch das Problem des Mindestlohnes. 

Jetzt kommen wir zu einem Thema, das immer wieder auftaucht, und zwar geht es um die Frage: Ist das Lohnabstandsgebot inzwischen untergraben oder ist das Lohnabstandsgebot nicht mehr so wirksam, sodass die Menschen, anstatt zur Arbeit zu gehen, lieber alle zu Hause auf der faulen Haut liegen, weil sie ja so üppige Unterstützung vom Staat bekommen? Das Interessante ist, dass diese Debatte von den aller-, allermeisten, die sie führen, nie dazu benutzt wird zu sagen: Wir brauchen mehr Tarifbindung

(Dr. Katja Pähle, SPD: Ja!)

und höhere Tariflöhne und einen höheren Mindestlohn. Sie wird immer dazu benutzt, Bürgergeldempfänger als diejenigen zu bezeichnen, die man noch schlechter behandeln muss, auf denen man noch weiter herumtreten muss. 

Wir können eine Lohnabstandsdebatte gern führen, das haben wir auch bereits getan. Ein Antrag von uns in einer der letzten Landtagssitzungen trug den Titel: „Arbeit muss sich wirklich lohnen“. Jawohl: höhere und bessere Tarifbindung, höhere Mindestlöhne - das ist das, womit man wirklich ein Lohnabstandsgebot durchsetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, und nicht mit solchen Debatten. 

(Beifall bei der Linken - Zuruf von Thomas Krüger, CDU)

Deswegen sagen wir ganz deutlich - wer mit ein bisschen volkswirtschaftlichem Verstand an das Thema herangeht, der weiß das auch  : Die Löhne, die in den verschiedenen Bereichen bezahlt werden, erhöhen sich natürlich dezidiert dadurch, dass das Bürgergeld eine Grundsicherung darstellt und dass diese Bürgergeldauszahlung nicht an den sogenannten Vermittlungsvorrang geknüpft wird, der nämlich bei der Einführung von Hartz IV dazu geführt hat, dass wirklich fast jeder jede dreckige Arbeit zu jedweden schlechten Konditionen annehmen musste.

(Zuruf von Daniel Rausch, AfD)

Das hat dazu geführt - das war die Konsequenz von Hartz IV  , dass es eine extreme und massive Ausweitung des Mindestlohnbereiches hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gab. Beide Dinge hängen natürlich ein Stück miteinander weit zusammen. Wenn man wirklich höhere Löhne in den unteren Einkommensgruppen realisieren will, dann muss man genau das Umgekehrte tun, dann darf man die sozialen Bezüge nicht auch noch kürzen. Das führt nämlich genau zu einer gegenteiligen Entwicklung. Insofern können wir sehr wohl sagen: Wer in den unteren Einkommensgruppen und in ihren Lebensrealitäten wirklich etwas bewirken will, der kann sich sehr wohl für höhere Mindestlöhne und für ein vernünftiges Bürgergeld einsetzen. Wer genau das Gegenteil tut, der verschlechtert die Lebensrealität von beiden Gruppen, nämlich derjenigen im Mindestlohnbereich und derjenigen im Bürgergeldbezug. 

(Beifall bei der Linken - Daniel Sturm, CDU: Das muss jemand bezahlen!)

Jetzt will ich nur einmal klar sagen: Dass diese Kampagne gegen Bürgergeldempfänger von der AfD geführt wird, von großen Teilen der CDU geführt wird, ja, auch von der FDP geführt wird, das ist nun nichts Neues. Deswegen freue ich mich aber ausdrücklich, Holger Hövelmann, dass Sie diese Debatte hier eingeführt haben. 

Denn diese Debatte haben Sie beantragt am gleichen Tag, an dem der Bundesvorsitzende Ihrer Partei beim ZDF-Sommerinterview folgendes Zitat gebracht hat:

„Wir haben uns viel zu sehr um das Bürgergeld und zu wenig um Menschen gekümmert, die morgens fleißig aufstehen, sich kümmern, sich an die Regeln halten, Kinder haben, in den Vereinen sind und dafür sorgen, dass dieses Land läuft.“ 

(Jörg Bernstein, FDP: Recht hat er! - Zurufe von Nadine Koppehel, AfD, und von Guido Kosmehl, FDP - Weitere Zurufe)

    „Wir haben uns zu viel um das Bürgergeld gekümmert und zu wenig um die Menschen, die früh aufstehen.“

(Zuruf von Dr. Katja Pähle, SPD - Weitere Zurufe)

Als wenn Bürgergeldempfänger nicht mitunter früh aufstehen, weil sie Aufstocker sind. Als wenn Bürgergeldempfänger keine Kinder haben, die sie in die Schule bringen. Als wenn Bürgergeldempfänger sich nicht an die Regeln in dieser Gesellschaft halten. Das ist genau die Gegenüberstellung, die auf die Argumentation von AfD und CDU zu Bürgergeldempfängern eingeht. 

(Beifall bei der Linken)

Das ist auch schon von verschiedenen Leuten substanziell gewürdigt worden. Dann ist es auch kein Zufall, wenn Klingbeil verspricht, dass die Auszahlungen im Bereich des Regelsatzes in den nächsten beiden Jahren nicht etwa stagnieren, sondern trotz Inflation sinken werden, in etwa um 5 % bis im Jahr 2027 um 10 %. Insofern ist es - das ist die Tragik - eine Argumentation, die leider von Ihrem eigenen Parteivorsitzenden genau an dem Tag vorgeführt wird, an dem Sie diese Aktuelle Debatte einbringen. Deswegen, Holger Hövelmann, danke, dass Sie sich von Ihrem eigenen Bundesvorsitzenden in dieser Art und Weise absetzen. 

(Beifall bei der Linken - Guido Kosmehl, FDP: Oh! - Weitere Zurufe)

Deswegen geht es hier möglicherweise auch um mehr als nur um Bedarfssätze. Es geht möglicherweise auch um mehr als nur um Fragen, die im Detail auf der Bundesebene geklärt werden. 

Wir haben natürlich auch hier im Land versucht, zusätzliche Unterstützungen für den Bereich der Menschen, die im Niedriglohnbereich sind     Wir haben die Zahlen alle gehört, wie viele das jetzt sind, wie viele vom Mindestlohn betroffen sind. Wir haben hier auch im Landtag darüber bereits debattiert, wie man diese Dinge aus unserer Perspektive politisch mit unterstützen kann, wie man deren Lebenssituation verbessern kann. Dabei war eines der großen Argumente auch für die SPD, in diese Koalition einzutreten, das Tariftreuegesetz. Jetzt haben wir zweieinhalb Stunden hinter uns seit der Mittagspause. Und wir haben eine Beschlussempfehlung, nach der dieses Tariftreuegesetz in Sachsen-Anhalt faktisch keinerlei Bedeutung hat. 

(Zustimmung von Guido Kosmehl, FDP)

Abgesehen davon, dass diejenigen, die dies hier eingebracht haben, nicht verstanden haben, was darin steht, 

(Olaf Meister, GRÜNE, lachend: Ja!)

was noch einmal ein völlig anderes Systemproblem ist, haben wir im Grunde genommen heute eine Mehrheit der Koalition erlebt, die die Rahmenbedingungen aus dem § 11 - Vergabemindestlohn - faktisch für so gut wie alle Bereiche ausgeschlossen haben; übrigens hier wiederum im Gegensatz zur Bundesregierung, die gerade ein Vergabegesetz mit Tariftreue einführen, und zwar ab einem Vergabewert von 50 000 €. Das ist die Situation. 

Ich habe nicht umsonst nachgefragt: Wie sieht es denn aus, wenn wir wenigstens den Mindestlohn wirklich durchsetzen wollen? Was wollen wir denn machen, wenn wir inzwischen feststellen, dass ein Großteil der kontrollierten Arbeitgeber diesen Mindestlohn gar nicht einhalten, das heißt, er überhaupt gar keine Realität für Arbeitnehmer ist? - Die Antwort war sehr deutlich, auch aus der CDU-Fraktion - über die AfD will ich gar nicht reden  : Das ist Bürokratie. Das ist Misstrauen gegenüber den Arbeitgebern.

(Guido Kosmehl, FDP: Ja!)

Misstrauen gegenüber den Arbeitgebern, wenn man kontrolliert, ob der Mindestlohn gesetzlich eingehalten wird, oder aber Misstrauen gegenüber Bürgergeldempfängern bei einer Totalverweigerungsgröße von 0,28 %. Hier hat jede Fraktion die Möglichkeit, zu sagen, auf welcher Seite sie steht. Es ist interessant, dass die Fraktionen hier sehr deutlich gesagt haben, auf welcher Seite sie stehen. Die AfD, die CDU und die FDP auf der einen Seite - die SPD muss sich mal entscheiden, was sie eigentlich will in diesem Land - und wir auf der anderen Seite. - Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen. 

(Beifall bei der Linken - Guido Kosmehl, FDP: Wir stehen auf der Seite der Arbeitnehmer!)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Danke, Herr Gallert. Herr Gallert, es gibt einen Kollegen, der würde Sie gern etwas fragen.


Wulf Gallert (Die Linke):

Wer? 


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Herr Staudt. 


Wulf Gallert (Die Linke):

Ach ja, Herr Staudt. Na, dann machen Sie mal los. 


Thomas Staudt (CDU):

Herr Präsident! Herr Abg.Gallert! 

(Unruhe)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Augenblick!


Thomas Staudt (CDU):

Sie sprachen von einer Kampagne gegen das Bürgergeld und gegen die Bürgergeldempfänger. 


Wulf Gallert (Die Linke):

Ja. 


Thomas Staudt (CDU):

Wir machen keine Kampagne gegen Bürgergeldempfänger, wir machen eine Kampagne für die, die hier jeden Tag arbeiten gehen. Und meine Frage    

(Zuruf von Cornelia Lüddemann, GRÜNE) 

- Im Gegensatz zu Ihnen mache ich das jeden Tag. 

Meine Frage: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den von Ihnen angesprochenen nötigen Tariferhöhungen und der Inflation und der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands? Welchen Zusammenhang sehen Sie dabei? 

(Zuruf von der AfD: Ist doch egal!)


Wulf Gallert (Die Linke):

Im Grunde genommen könnte man ja sagen: Das ist eine alte Arbeitgeberdebatte; jede Lohnerhöhung führt zu Inflation. Wir müssen nur feststellen, dass es in dieser Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Inflationen gab, in denen es so gut wie überhaupt keine Tariferhöhungen gegeben hat. Daran sieht man, dass dieser eindeutige und eindimensionale Zusammenhang überhaupt nicht da ist. Schauen Sie sich bitte einmal die Statistiken der letzten fünf Jahre an. Vergleichen Sie bitte einmal die Reallohnentwicklung mit der Inflation. 

(Guido Kosmehl, FDP: Oh!)

Dann sehen Sie, dass Sie völlig unterschiedliche Entwicklungen in diesem Bereich haben. 

Und jetzt noch einmal zu der Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Natürlich kann man gern über die volkswirtschaftlichen Debatten reden, die uns zurzeit gerade vorgelegt werden. Es ist ein großes Problem der Bundesrepublik Deutschland, dass sie im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Situation einen unterentwickelten Binnenmarkt hat. Übrigens ist das auch der Grund, warum viele Arbeitnehmer aus dem Osten, die noch vor Jahren in Deutschland gearbeitet haben, inzwischen weiter in den Westen fahren, z. B. nach Frankreich und auch nach Großbritannien, und zwar deswegen, weil bei uns die Löhne eben nicht höher sind, sondern in vielen Fällen gerade im Niedriglohnbereich deutlich niedriger sind als in diesen Ländern. 

Diese relative Binnenmarktschwäche führt übrigens dazu, dass wir als Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eine extrem hohe Exportabhängigkeit haben. Darüber waren wir immer super erfreut und haben erzählt: die Bundesrepublik mit einem Riesenexportüberschuss, super. 

(Guido Kosmehl, FDP: Ja!)

Jetzt merken wir auf einmal, wie dieser Exportüberschuss uns von solchen Leuten wie Trump abhängig macht. Denn in dem Augenblick, wo wir unseren Absatz durch diese Exporte und nicht durch den Binnenmarkt aggregieren, sind wir auf einmal diejenigen, die von den Entscheidungen, die ein Donald Trump in den USA fällt, stärker betroffen als diejenigen, die einen stärkeren Binnenmarkt entwickeln. Deswegen sage ich noch einmal ausdrücklich: Eine hohe Produktivitätsentwicklung wie in den 1950er , 1960er , 1970er-Jahren in Deutschland verglichen mit Europa - das sagen Ihnen alle Analysten - hat damals mit einem hohen Preis für die Lohnarbeit zu tun gehabt. Deswegen ist eine entsprechende Einkommenssituation gut für die Konjunktur und nicht negativ. - Danke.