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Plenarsitzung

Die erste Frau im Parlament

Vor einem Jahrhundert kaum vorstellbar: Bürgermeisterinnen, Landrätinnen, Ministerinnen, Ministerpräsidentinnen, Kanzlerinnen … inzwischen Realität. Dass Frauen sich aktiv in gesellschaftliche Prozesse einmischen, ist heute selbstverständlich und verfassungsmäßig garantiert. Der Weg dahin war steinig, national wie international. Ungeachtet ihres Engagements blieben Frauen nach der Re­volution 1848/49 von allen Bürgerrechten ausgeschlossen. Rigide Gesetze verhinderten, dass Frauen sich organisierten. Erst in den 1860er Jahren begann sich eine Frauenbewegung zu for­mieren.

Marie Kettmann (Mitte, 2. Reihe) war von Dezember 1919 bis Juni 1920 die einzige Frau im Anhaltischen Landtag. Foto: Stadtarchiv Dessau-Roßlau

Forderungen schon in 1870er Jahren

Wie Louise Otto-Peters und andere forderte Hedwig Dohm frühzeitig poli­tische Mitsprache für Frauen, da „nur über das Stimmrecht (…) der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau“ gehe. „Ohne politische Rechte seid ihr macht­los“, schrieb sie 1876. Frauenstimm­recht gehörte seit 1891 zu den program­matischen Forderungen der SPD. Mit dem neuen Reichsvereinsgesetz 1908 wurden Frauen nicht mehr wie Minder­jährige oder Lehrlinge behandelt und das Politikverbot für Frauen aufgehoben. Die Debatten um das Frauenstimmrecht zur Jahrhundertwende spiegelten bestehen­de politische Differenzen unter den Frau­en wider und waren zugleich Teil partei­politischer Diskurse zur Wahlrechtsfrage.

Die Wahlrechtsfrage – das hieß in Deutschland die endgültige Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts für Män­ner – erwies sich im Herbst 1918 als politische Prinzipien- und Machtfrage, aber auch als Prüfstein demokratischer Gesinnung und Politik. Die Verkündung des neuen, auch Frauen einschließen­den Wahlrechts am 12. November 1918 durch den Rat der Volksbeauftragten öff­nete Frauen den Zugang in eine bisher männliche Domäne.

Bereits zwei Tage zuvor übernahm in Braunschweig die aus Egeln stammen­de Minna Faßhauer (1875–1949, USPD) das Amt der Volkskommissarin für Volks­bildung. Die erste Ministerin in Deutsch­land schaffte in ihrer nur bis Februar 1919 dauernden Amtszeit die kirchliche Schulaufsicht ab, setzte die Religions­mündigkeit auf 14 Jahre herab, schuf die gesetzlichen Grundlagen für eine weltliche Einheitsschule und trat für die Einrichtung von Volkskindergärten und Volksschulen ein.

Neues Reichswahlgesetz tritt in Kraft

Mit der Veröffentlichung des neuen Reichswahlgesetzes am 30. November 1918 begannen reichsweit Wahlvorberei­tungen. Neben Kommunalwahlen konn­ten die Wahlberechtigten unserer Region in den Folgejahren über Mandate für den Reichstag und drei Landtage entschei­den. Von diesen vier überregionalen Par­lamenten hatten neben dem Reichstag nur die Landtage in Anhalt und Preußen gesetzgebende Kompetenz. Das unter­scheidet sie vom Landtag der Preußi­schen Provinz Sachsen (Provinzialland­tag Sachsen, Ständehaus Merseburg). In diesen vier Parlamenten nahmen zwischen 1918 und 1933 insgesamt 29 Frauen Mandate für die Region Sachsen- Anhalt wahr.

Doch zurück in den Herbst 1918. In An­halt verzichtete nach Bekanntwerden des Kieler Matrosenaufstands das Herzogli­che Haus auf den Thron und ebnete den Weg für die Bildung eines sozialdemokra­tisch geführten Staatsrates, der bereits am 16. November 1918 das neue de­mokratische Wahlrecht verkündete und den 15. Dezember 1918 als Wahltag für die konstituierende Landesversammlung festlegte.

Unter den 75 Kandidaten zu diesen Wah­len warben mit Maria Wirth, Agnes Müller, Hildegard Ahrendt (alle Dessau), Minna Fiedler, Minna Agnes Körner (beide Zerbst) und Marie Kettmann (Roßlau) sechs Frauen, wenn auch erfolglos, um die Stimmen der Wahlberechtigten. Erst im Dezember 1919 rückte die Sozialdemo­kratin Marie Kettmann in das Parlament mit Sitz im Behördenhaus Dessau nach.

Eine Frau und 35 Herren

Die Anwesenheit einer Frau neben 35 Herren würdigte der Landtagspräsident Heinrich Peus in seiner Begrüßung im Plenum mit dem deutlichen Hinweis, dass auch weibliche Interessen Berück­sichtigung verdienen. Verhaftet in gän­gigem Rollenverständnis gestand auch er Frauen nur eine eingeschränkte Po­litikfähigkeit zu und leitete, ausgehend von tradierter Arbeitsteilung, politische Wirkungsfelder für Frauen ab. Ein Blick in die Landtagsprotokolle verrät, dass sich die entsprechende Ansprache nur zögerlich durchsetzte und der Anschein entstehen konnte, dass die „Herren Ab­geordneten“ unter sich waren.

Auch im Parlament ihrer Heimatstadt Roßlau war Marie Kettmann die erste weibliche Abgeordnete und wirkte hier bis 1927. Anders als ihre im Januar 1919 für die Wahlen zur Nationalver­sammlung erfolgreich kandidierenden Kolleginnen Minna Bollmann (Halber­stadt, SPD) und Anna Hübler (Schkeu­ditz, USPD) gab die Ehefrau eines Elb­schiffers und Mutter einer Tochter an, dass sie Hausfrau sei. Marie Kettmann blieben nur wenige Monate bis zum Ende der Legislatur.

Engagement in der Hebammenhilfe

Als Berichterstatterin des Petitions­ausschusses nahm sie zur freien Heb­ammenwahl aufgrund der Eingabe des Gemeindevorstandes Klepzig (bei Köthen) Stellung. Nach geltenden Be­stimmungen musste eine Grundgebühr für die Geburtshilfe an die öffentliche Kasse gezahlt werden, unabhängig da­von ob eine öffentlich angestellte oder eine freie Hebamme gerufen wurde. Das heißt, Frauen, die sich für eine freie Hebamme entschieden haben, zahlten doppelt: die Mindesttaxe der Gebührenordnung an die zuständige Bezirkshebamme und die Kosten für die Geburtshilfe. Dagegen wandte sich der Gemeindevorstand mit seiner Eingabe. Beide – Ausschuss und Landtag – sa­hen keinen Handlungsbedarf, da eine freie Hebammenwahl gewährleistet sei.

Die Abgeordnete Kettmann hatte die Wahl, entweder für eine wirkliche freie Hebammenwahl ohne finanzielle Sank­tionen im Sinne „doppelter“ Gebühren einzutreten und zugleich die Schmäle­rung des Einkommens der Bezirksheb­amme billigend in Kauf zu nehmen oder den Schein einer freien Hebammenwahl über erhöhte Gebührenpflicht durch die Gebärende zu vermitteln. Die getroffene Entscheidung erübrigte ein Nachden­ken über die Finanzierung der Bezirks­hebammenstellen, eingeschlossen die zusätzliche Bereitstellung öffentlicher Mittel. Zugleich entstand der Eindruck, dass ein weiblicher Erwerbszweig – zu­mindest für den Teil der staatlich ange­stellten Hebammen – gesichert wurde.

Eine Frau als Nachrückerin

Nach Inkrafttreten der Weimarer Ver­fassung und der damit verbundenen Bestätigung der Eigenstaatlichkeit des Freistaats Anhalt, erhielt auch die im Juli 1919 verabschiedete neue Landes­verfassung in Anhalt 1920 Gültigkeit. Im Ergebnis der folgenden Landtagswahlen am 6. Juni 1920 blieb das Parlament ausschließlich Männern vorbehalten.

Erst 1924 gelang mit der Bernburgerin Emilie Henze, Antonie Buchheim aus Köthen und Frieda Fiedler aus Bernburg erneut Frauen der Einzug in den Landtag des Freistaats. In diesem Jahr wurden die Wahlberechtigten gleich zweimal um ihr Votum gebeten. Im Juni betraten Emi­lie Henze (KPD) und Antonie Buchheim (DVP) parlamentarischen Boden. Henze hatte bereits 1920 auf Listenplatz 27 für die USPD kandidiert. Antonie Buchheim zog infolge des Mandatsverzichts eines männlichen Konkurrenten in das Parla­ment ein. Neuland betretend und sich als erste eigene Vertreterin der Haus­frauen und Mütter verstehend, ermutig­te sie die Frauen in Anhalt, politisch zu wirken. Demnach sah Antonie Buchheim in der Kinder- und Jugendfürsorge, im Ar­menwesen und im Bildungsbereich ihre parlamentarischen Wirkungsfelder.

Frieda Fiedler kommt in den Landtag

Im Unterschied zu beiden Frauen war die So­zialdemokratin Frieda Fiedler, Kommunal­politikerin und Mitbegründerin der AWO Bernburg, bei den Wahlen im November 1924 erfolgreich. Als einzige Frau ge­hörte sie dem Landtag Anhalt über zwei Wahlperioden an. Die Sozialpolitikerin setzte sich erfolgreich für den Ausbau der Schwangeren- und Säuglings- sowie der Tuberkulosefürsorge, für die Einrich­tung von Kinder- und Jugendheimen, für Kinderferienspiele, Schulspeisung, hygie­nische Wohnverhältnisse und für die Si­cherung des Existenzminimums für Frau­en und Männer und deren Familien ein.

Frieda Fiedler beteiligte sich aktiv an den reichsweiten Debatten um die Abschaf­fung der §§ 218/219 Strafgesetzbuch und agierte, ihre Gestaltungsspielräume nutzend, ganz bewusst frauenpolitisch im Landtag. Dabei ging es ihr ebenso um eine Verbesserung der Situation wie um die Anerkennung der Leistungen von Frauen. Mit ihrem Wechsel im Januar 1932 als Nachrückerin in den Reichstag blieb der Landtag des Freistaats Anhalt ohne weibliche Stimme. Die Mandatsträ­gerinnen im Landtag Anhalt in der Zeit von 1918 bis 1933 waren sowohl in ih­ren Fraktionen als auch im Parlament die einzigen Frauen und mussten die damit verbundene „Isolation“ überwinden.

Ein plötzliches Ende des politischen Engagements

Die Einengung des Wahlrechts für Frau­en 1933 wie auch die Abtretung der Ent­scheidungsbefugnisse der Parlamente signalisierten ebenso wie die unter Be­rufung auf das Gesetz über die Gleich­schaltung der Länder mit dem Reich (31. März 1933) vorgenommenen Korrekturen der Ergebnisse der Märzwahlen die Beendigung einer gerade entstandenen demokratischen Tradition.

Dr. Elke Stolze, die Autorin des Artikels, veröffentlichte zum Thema Frauenwahlrecht dasBuch „Die weiblichen ‚Herren Abgeordneten‘. Politikerinnen der Region Sachsen-Anhalt 1918–1945“.