Cookies helfen uns bei der Weiterentwicklung und Bereitstellung der Webseite. Durch die Bestätigung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden.

Plenarsitzung

Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Landtag und Landesregierung erinnerten gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft am 27. Januar 2020 im Plenarsaal in Magdeburg an die Millionen Opfer, die in der Zeit des Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkriegs verfolgt, entrechtet, gefoltert und ermordet wurden. Die Gedenkrede hielt in diesem Jahr der israelische Historiker Prof. Dr. em. Moshe Zimmermann (Hebräische Universität Jerusalem).

Allein in Auschwitz, das am 27. Januar 1945 – also vor 75 Jahren – von der russischen Armee befreit wurde, waren etwa 1,3 Millionen Menschen ermordet worden. Das Vernichtungslager wurde zum Sinnbild nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den von den Nazis eigens zur Vernichtung angelegten Lager Majdanek, Sobibor, Belzec und Chelmno verloren weitere viele Hunderttausend Menschen ihr Leben in den Gaskammern.

Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch eröffnete die Gedenkveranstaltung zum Holocaustgedenktag im Magdeburger Landtag. Foto: Stefanie Böhme

Demokratie täglich mit Leben füllen

Es sei dies ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung, sagte  Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch. Mit dem Verlust der Zeitzeugen gehe auch die unmittelbare Weitergabe der Erinnerungen und Erfahrungen verloren, hier seien andere Wege der Erinnerung und Geschichtsvermittlung zu finden. Brakebusch warnte vor einer schleichenden Aushebung von demokratischen Strukturen. „Auch nach 75 Jahren Frieden sind wir alle täglich gefordert, die Demokratie mit Leben zu füllen und sie gegen Extremismus zu verteidigen“, sagte die Landtagspräsidentin.

Prof. Dr. Moshe Zimmermann sprach 2020 die Gedenkrede im Landtag von Sachsen-Anhalt. Foto: Stefanie Böhme

Das „Nie wieder!“ muss viel früher ansetzen

Nicht mit erhobenem Zeigefinger wolle er die Gedanken eines Historikers aus Israel, Sohn von Auswanderern, denen es gelungen sei, vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina auszuwandern, im Landtag teilen, erklärte Moshe Zimmermann. Die Mahnung „Nie wieder!“ dürfe nicht allein auf „Nie wieder Auschwitz!“ reduziert werden, sie sei vielmehr vom ersten Schritt der nationalsozialistischen Verbrechen an gültig. Denn jedes frühe und erfolgreiche Eingreifen gegen die Diktatur hätte Auschwitz verhindern können.

Die Juden stellten zur Zeit der Machtergreifung der Nazis lediglich ein Prozent der deutschen Bevölkerung. Die Emanzipation und Integration der Juden in Deutschland, die ins 18. Jahrhundert mit der Trennung von Religion und Staat zurückreichte, sollte zurückgedreht werden, so das Ziel der modernen Antisemiten. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die antisemitischen Parteien jedoch im Wilhelminischen Kaiserreich nie mehr als vier Prozent der Wählerstimmen erzielt. Das Potenzial der Radikalisierung hätte man seinerzeit eher Frankreich zugetraut (Stichwort Dreyfus-Affäre). Und doch sei es innerhalb von einer Generation zum Massenmord an den Juden gekommen – auf Geheiß Deutschlands.

Der Verlust des Ersten Weltkriegs sei ein wichtiger nächster Schritt für den Antisemitismus in Deutschland gewesen. Man habe nach dem inneren Feind als Sündenbock gesucht – der Jude, der Sozi, der Bolschewik habe sich da „angeboten“, so Zimmermann.

Mit einer rassistischen und antisemitischen Partei an der Macht sei der nächste Schritt zum Holocaust getan worden. Bemerkenswert sei, dass der Druck nicht allein „von oben“ gemacht worden, sondern dass er oft umgekehrt „von unten“ gekommen sei. Die bestehenden Gesetze hätten oft nicht für den Druck von unten ausgereicht. Ein banales Beispiel biete der Sport: Vertreter der Vereine forderten die Arisierung der Vereine, also den Ausschluss von Juden, die Regelung wurde daraufhin erst erstellt. Neue politische Maßnahmen der Entrechtung seien daraufhin nur als Gegenmaßnahme auf eine „Provokation“ von den eigentlichen Opfern ergriffen worden.

Zimmermann erinnerte an ein immens wichtiges Treffen der deutschen Regierung am 12. November 1938. Sieben Reichsminister diskutierten unter Vorsitz Hermann Görings die „Lösung der Judenfrage in Deutschland“. Dieses Treffen verdeutliche die Dynamik der Ausgrenzung und zeuge von der verrohten und vulgären Sprache der Täter: Schon hier seien „extremste Lösungen bei geeigneter Möglichkeit“ gefunden worden. Diskutiert wurden hier die Entfernung von Juden aus deutschen Schulen, der Transport in separaten Bahnabteilen, die mögliche Ghettoisierung der Juden und den „Export der Juden“ als endliches Ziel. Am 30. Januar 1939 proklamierte Hitler schließlich im Reichstag die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“.

Das Erinnern hätte die Deutschen nicht immun gegen das Böse gemacht, zitierte Zimmermann aus der Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier kürzlich in Yad Vashem. Viele sähen in ihrem antisemitischen, völkischen und autoritären Denken die Lösung für die neuen Probleme dieser Zeit. Die negative Dynamik der 1930er und 1940er Jahre könne sich wiederholen, warnte Zimmermann, „deswegen denken wir den 27. Januar in einem breiteren historischen Kontext“. Vom „Wehret den Anfängen“ seien aber das kritische Denken, die Überzeugung von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und deren feste Verankerung in der gesellschaftlichen Ordnung geblieben.