Henriette Quade (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Der Krieg gegen die Ukraine ist in vollem Gange. Jeden Tag gibt es Meldungen über Tote und Verletzte und werden die Zerstörung, die Grausamkeit, das Leid und die Verheerung, die der russische Angriff erzeugt, größer. Jeden Tag werden mehr Menschen zur Flucht gezwungen. Die Zahlen, die gestern Abend aktuell waren, sind es heute schon nicht mehr.

Sicherheit ist für Ukrainerinnen und Ukrainer im Moment, selbst wenn sie sich zunächst in unmittelbare physische Sicherheit bringen konnten, weiter entfernt denn je. Es ist gut, dass die EU entschieden hat, Ukrainerinnen und Ukrainer mit einem guten und stabilen Schutzstatus, der langwierige und zermürbende Asylverfahren erspart, aufzunehmen. Es ist bezeichnend, dass diese sogenannte Massenzustrom-Richtlinie   ein fürchterliches Wort im Übrigen   erstmals Anwendung findet.

Die Syrerinnen und Syrer, die Afghaninnen, die Kurdinnen, die Irakerinnen und so viele andere sind doch nicht weniger vor Krieg, Zerstörung und Leid geflohen und hätten diesen stabilen Schutz, der nicht alle paar Monate infrage gestellt wird, genauso dringend gebraucht wie die Ukrainer.

(Zustimmung)

Ja, diejenigen, die als sogenannte Short-term Residents, als Studierende, als Arbeitskräfte, als Schutzsuchende mit noch ungeklärtem Aufenthaltsstatus in der Ukraine lebten, sind nicht weniger Kriegsflüchtlinge als Menschen mit ukrainischem Pass. Sie erleben nichts anderes als Rassismus, wenn sie an den Grenzen aussortiert werden, wenn ihnen Hilfe verwehrt wird, wenn sie von polnischen Faschisten angegriffen werden oder wenn hierzulande zwischen guten und schlechten Flüchtlingen unterschieden wird. Es ist nichts anderes als Doppelmoral, den inhumanen Umgang mit Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze, das seit Jahren herrschende Elend auf den griechischen Inseln und die akute Gefahr für afghanische Ortskräfte nicht ebenso als Handlungsauftrag zu begreifen wie die Not der Ukrainerinnen und Ukrainer.

(Zustimmung)

Die Mitgliedstaaten der EU haben es in der Hand, darüber zu entscheiden, ob diese Short-term Residents den gleichen Schutz bekommen. Nein, Frau Dr. Pähle, sie bekommen ihn nicht. Sie dürfen bis zum 23. Mai ohne Aufenthaltstitel hier bleiben. Das ist das Gegenteil von einem sicheren Schutzstatus.

Meine Damen und Herren! Die Bilder und Nachrichten aus der Ukraine schnüren einem die Kehle zu. Sie erschüttern, sie machen Angst. Mir geht es nicht anders, wenn ich sehe, wie in Russland Menschen, die den Krieg einen Krieg nennen, die sich ihm verweigern und die für Frieden demonstrieren, brutal verhaftet werden, mit drakonischen Freiheitsstrafen zu rechnen haben und freie Presse nicht mehr stattfinden kann. Es ist deshalb dringend notwendig, als Bundesrepublik und als EU die politische Entscheidung zu fällen, Menschen, die aus Russland fliehen, sei es als Oppositionelle oder sei es als Deserteure, zu schützen und aufzunehmen.

(Zustimmung)

Wer die Politik Putins verurteilt, der muss denen eine Chance geben, die sich ihr entziehen wollen und gegen ihn arbeiten.

Seit dem Beginn des Krieges laufen an so vielen Orten in diesem Land, so auch hier in Sachsen-Anhalt, Hilfsaktionen. Menschen sammeln Hilfsgüter, Kleidung, Lebensmittel, Geld und medizinische Ausstattung, oft auf eigene Faust, oft aber auch unterstützt von lokalen Netzwerken, also von der Feuerwehr bis hin zur Hochschulgruppe. Busse, Autos und Taxis fahren an die Grenze, um Menschen abzuholen. Vor Ort wurden in Windeseile Strukturen und Netzwerke aus den Jahren 2015 und 2016 reaktiviert und neue geschaffen, um Menschen aktiv zu helfen. All diesen Menschen möchte ich von ganzem Herzen danken.

(Beifall)

Es gibt so viel Bemerkenswertes daran. Da ist der Magdeburger Unternehmer, der massenhaft Hilfsgüter in die Ukraine fährt und Wege nach Deutschland koordiniert. Da sind die Schülerinnen und Schüler, die einen Kuchenbasar veranstalten, um Geld zu sammeln. Da ist die Buchhandlung, die versucht, ukrainische Kinderbücher aufzutreiben. Diese Rede ließe sich mit Beispielen füllen, und zwar mit großartigen Beispielen gelebter Solidarität.

Besonders bemerkenswert sind aus meiner Sicht drei Dinge: zum Ersten zu sehen, wie Menschen, die selbst als Schutzsuchende hierherkamen, ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre Empathie einbringen, um anderen zu helfen und ihnen den Weg leichter zu machen; zum Zweiten zu sehen, mit welcher Professionalität und Kraft die Gruppen, die im Netzwerk der Migrantenselbstorganisationen oder in der Auslandsgesellschaft vereint sind, Koordinierungs- und Beratungsstellen auf die Beine gestellt haben, die versuchen, Hilfsbereitschaft und Bedarfe zu koordinieren; zum Dritten   das zu betonen, ist in den Zeiten, in denen wir leben, besonders wichtig   zu sehen, wie zum Beispiel im Slawia e. V. in Halle Ukrainerinnen, Russinnen, Georgierinnen, Tschetscheninnen und viele, viele andere völlig unabhängig von ihrer Nationalität und im Übrigen auch unabhängig von ihrer Religion gemeinsam Hilfe organisieren.

Es ist leider nötig, das zu betonen; denn es gibt Angriffe auf Menschen, die als russisch wahrgenommen werden, auch hier in Sachsen-Anhalt. In Halle wurde ein Mann angegriffen, weil er russisch sprach. Vereine und Verbände bekommen hasserfüllte Nachrichten. Russinnen und Russen, die hier leben, werden attackiert für die Politik Putins, vor der sie nicht selten selbst geflohen sind.

Es sind doch gerade die russischsprachigen Communities hier, die zeigen, dass die Schubladen, in denen dabei gedacht wird, nicht nur falsch und ungerecht sind, sondern wie immer nur etwas mit der Realität des eigenen Ressentiments zu tun haben. Diese Angriffe sind nicht zu rechtfertigen. Sie sind furchtbar und sie müssen aufhören.

(Beifall)

Es ist notwendig, nicht nur die aufenthaltsrechtlichen Schutzlücken, die ich beschrieben habe, zu schließen, sondern auch über notwendige Maßnahmen hier zu sprechen und drohende Defizite in den Blick zu nehmen. Solidarität, Hilfsbereitschaft und enorme Arbeitsbelastung und auch Kreativität prägen die Arbeit der letzten Wochen, auch   das erkenne ich an   der Ministerien und Verwaltungen. So wenig belastbar Prognosen grundsätzlich sind, so klar sehen wir doch aber: Wir brauchen mehr Unterkünfte für die Erstaufnahme, mehr dauerhaften Wohnraum, mehr Sprachkurse, Kinderbetreuung, Kitaplätze und Schulplätze.

Akuten Handlungsbedarf sehe ich bei der Erschließung von Wohnraum und insbesondere bei der Ausstattung von Wohnraum mit Möbeln. Ja, die Kommunen leisten Vieles und Großes. Sie brauchen mehr als unseren Dank, nämlich eine schnelle, verlässliche und den tatsächlichen Kosten entsprechende finanzielle Absicherung.

Wir sehen ganz klar den Bund in der Pflicht, diese finanzielle Absicherung zu gewährleisten. Die Landesregierung muss sich dafür einsetzen, dass er das auch tut. Dass Menschen wie jetzt in Turnhallen und Notquartieren untergebracht werden müssen, kann für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Wir sollten aber alles tun, um das zu vermeiden und den Aufenthalt dort so kurz wie möglich zu halten.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiß, mit wie viel Herzblut, Engagement, Kreativität alle Beteiligten alles tun, um Menschen auch in Turnhallen willkommen heißen zu können. Dass dies keine gute Unterbringungsform ist, ist doch aber völlig klar. Es ist dringend notwendig, andere Unterbringungsmöglichkeiten für die vorübergehende Erstaufnahme zu erschließen. Ferienwohnungen, Jugendherbergen und ähnliche Einrichtungen kommen dafür infrage und natürlich auch weitere Hotelkapazitäten.

Klar ist, dass die Übernahme der Kosten und die Vertragsgestaltung auch für die Hotelbetreibenden praktikabel und realistisch sein müssen. Wenn Hotels bspw. nicht mehr als 100 Plätze bis Ende des Jahres zur Verfügung stellen können, dann kann das doch in der jetzigen Situation kein Ausschlussgrund sein, sondern braucht eine flexible Lösung.

Gleiches gilt für die kommunalen Gemeinschaftsunterkünfte. Wir haben Leute, die seit Jahren versuchen, aus diesen Gemeinschaftsunterkünften herauszukommen. Lassen wir sie doch endlich ausziehen, damit Platz für eine Erstaufnahme entsteht, ohne dass die, die dort bleiben wollen, zwangsweise umziehen müssen.

Wir müssen, dem unkomplizierten Schutzstatus entsprechend, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Anmeldungen bei den Ausländerbehörden schnell und effektiv stattfinden können. Wir sehen bereits jetzt teilweise sehr, sehr lange Wartezeiten, und sie werden noch länger werden, je mehr Menschen kommen. Rein formale Termine sollten deshalb zumindest vorübergehend zurückgestellt werden. Möglich wäre dies mit einer ausnahmsweise automatischen Verlängerung von Aufenthaltstiteln.

Eine besondere Herausforderung ist die Tatsache, dass die Gruppe der Frauen, Kinder und älteren Menschen unter den Flüchtenden besonders groß ist. Sie haben besondere Bedürfnisse, auf die sich Sachsen-Anhalt schnell vorbereiten muss. Zum einen braucht es effektive Schutzmechanismen gegen Ausbeutung, sexualisierte Gewalt und Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen.

(Zustimmung)

Denn auch das gehört leider zu den Erfahrungen aus den Jahren 2015 und 2016: Notlagen sind auch deshalb Notlagen, weil sie ausgenutzt werden. Dem müssen wir vorbeugen. Zum anderen ist der emotionalen und psychischen Ausnahmesituationen, in denen sich Frauen und Kinder befinden, Rechnung zu tragen. Darauf ist das Land nicht ausreichend vorbereitet.

Genauso dringlich ist es, einer weiteren Besonderheit Rechnung zu tragen, nämlich der Tatsache, dass unter den Schutzsuchenden viele ältere Menschen und Hochbetagte sind. Die Landesregierung muss schnell ein Verfahren entwickeln, mit dem auch den besonderen Bedürfnissen von Geflüchteten mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen, von Älteren mit Pflegebedarf entsprochen werden kann und mit dem ihre medizinische und pflegerische Versorgung sichergestellt wird.

Auch in Zukunft wird die Arbeit von Vereinen und Verbänden unverzichtbar sein, auch in Zukunft wird mit Blick auf die Flüchtenden aus der Ukraine die Expertise und die Arbeit der Frauenberatungsstellen, Migrantinnenorganisationen und der Sozialverbände eine große Rolle spielen und wird entscheidend dafür sein, dass sie in Sachsen-Anhalt gut aufgenommen werden. Ihre Arbeit muss dauerhaft und in einem größeren Maßstab gesichert werden. Die Mittel in Höhe von 55 000 €, die im Innenausschuss zusätzlich in den Haushaltsplan eingestellt worden sind, sind nicht ansatzweise ausreichend.

(Zustimmung - Zuruf)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Frau Quade, letzter Satz.


Henriette Quade (DIE LINKE):

Insofern braucht es erstens eine vollumfängliche Kostenübernahme und zweitens eine nicht nur akute, sondern dauerhafte und strukturelle Absicherung der professionellen Arbeit hier im Land. - Vielen Dank.

(Beifall)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Es gibt eine Intervention von Herrn Tillschneider. - Herr Tillschneider, Sie haben das Wort.


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD):

Ich muss jetzt etwas zu dieser abgrundtiefen Heuchelei sagen, die hier zum Ausdruck gebracht wurde. Frau Quade gehört zu denjenigen, die, wenn ihr jemand über den Weg läuft, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der vor zehn Jahren in irgendeiner rechtsradikalen Kameradschaft war, dann ruft: „Nazi, Nazi, Nazi!“, und die Flucht ergreift.

Wenn wir uns die Ukraine ansehen, dann haben wir mit dem Asow-Regiment und in weiten Teilen des politischen Spektrums waschechte Faschisten.

(Olaf Meister, GRÜNE: Das ist doch wohl … Zuruf: Und das von Ihnen! - Unruhe)

Es gibt in ganz Europa keine Gruppierung, die es so sehr verdient, im historischen und in vollem Sinn als Faschismus deklariert zu werden, wie diese Truppenteile, die offen mit Hakenkreuzfahnen einhergehen, die sich Hitlerporträts auf den Unterarm tätowieren und die einem Faschistenführer, dessen Grab in München liegt, huldigen.

(Unruhe)

Aber das spielt alles keine Rolle mehr. Und das zeigt uns: Ihr Antifaschismus   sogar Ihr Allerheiligstes: Ihr Antifaschismus   ist pure Heuchelei. Ihre Partei besteht aus nichts mehr als aus purer Heuchelei.

(Zustimmung)