Tagesordnungspunkt 5

Beratung

Niemand darf im Hilfesystem verloren gehen - Inklusiven Gewaltschutz in Sachsen-Anhalt umsetzen

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/6139

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und FDP - Drs. 8/6215


Einbringen wird den Antrag für die Fraktion Die Linke die Abg. Frau Anger.


Nicole Anger (Die Linke): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich bitte einmal Folgendes vor: Eine Frau im Rollstuhl flieht vor häuslicher Gewalt. Sie sucht Schutz, doch das Frauenhaus, das sie aufnehmen sollte, hat keinen barrierefreien Zugang, keinen Aufzug, keine barrierefreie Dusche, kein geeignetes Zimmer. Sie bleibt zu Hause, dort, wo sie Gewalt erfährt.

Oder: Eine Frau mit einer Hörbehinderung erlebt häusliche Gewalt. Sie sucht im Internet nach Hilfe, findet aber nur Telefonnummern, keine Gebärdenvideos, keine Chatfunktion, keine Information in leichter Sprache, keine Dolmetscherin in der Beratungsstelle. Auch sie bleibt zu Hause, dort, wo sie Gewalt erfährt.

Oder: Eine Frau mit einer geistigen Behinderung lebt in einer Einrichtung, wo Assistenzkräfte sie bedrängen. Sie möchte sich wehren, aber sie hat Angst, ihre Bezugsperson zu verlieren. Sie weiß nicht, an wen sie sich wenden kann. Und auch sie bleibt dort, wo sie Gewalt erfährt.

Meine Damen und Herren! Diese Frauen sind keine Fiktion. Sie leben hier in unserem Land und sie stehen stellvertretend für viele andere Frauen, die Gewalt erleben, aber keinen Zugang zu Schutz finden. Und genau darum geht es heute. Niemand darf in dem Hilfesystem verloren gehen.

(Zustimmung von Hendrik Lange, Die Linke)

Meine Damen und Herren! Frauen und Mädchen mit Behinderung sind in besonderem Maße gefährdet. Sie erleben Gewalt häufiger, sie erleben Diskriminierung häufiger und sie sind in vielen Situationen besonders verletzlich, körperlich, strukturell und sozial.

Die Antwort der Landesregierung auf meine Kleine Anfrage hat das noch einmal sehr deutlich gemacht. Denn schon die Statistik lässt viele Betroffene unsichtbar werden. Erfasst werden nur Menschen mit einem Grad der Behinderung ab 50, also einer Schwerbehinderung. Damit laufen schon von vornherein viele Betroffene unter dem Radar.

Und auch die Erhebungen zur Betreuung beschränken sich auf stationäre oder ambulante Wohnformen. Die häusliche Pflege, die familiäre Betreuung, Assistenzleistungen bleiben außen vor. Auch die Erfassung zu Gewalttaten erfolgt ausschließlich über die Polizeiliche Kriminalstatistik. Wir wissen aber alle, dass die Dunkelziffer enorm ist. Erschwerend sowohl für die Erfassung als auch für die Betreuung ist die fehlende Barrierefreiheit der Beratungs- und Hilfsangebote im Zuge des Gewaltschutzes.

Meine Damen und Herren! Gewaltschutz von Frauen mit Behinderung ist kein Randthema, es ist eine Schwachstelle in unserem Schutzsystem. Wenn wir über Gewaltschutz sprechen, müssen wir über ein Menschenrecht sprechen. Wenn wir über inklusiven Gewaltschutz sprechen, dann sprechen wir darüber, ob dieses Menschenrecht für alle gilt oder eben nur für einige.

Studien zeigen es immer wieder: Frauen und Mädchen mit Behinderung erleben deutlich häufiger Gewalt als Frauen ohne Behinderung. Sie erleben körperliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, psychische und strukturelle Gewalt. Und oft stammt diese Gewalt von Menschen, von denen sie abhängig sind, Pflegekräfte, Assistenzpersonen, betreuende Angehörige.

Viel zu oft bleibt diese Gewalt unentdeckt, weil Betroffene keine Möglichkeit haben, darüber zu sprechen, weil Beratungsstellen nicht barrierefrei sind, weil Informationen nicht verständlich sind, weil Frauenhäuser keine geeigneten Räume bieten und weil Zuständigkeiten zwischen Hilfesystemen unklar bleiben. Das alles führt dazu, dass Frauen mit Behinderung im Hilfesystem verloren gehen. Und genau das wollen wir mit unserem Antrag heute ändern.

(Zustimmung bei der Linken)

Meine Damen und Herren! Schauen wir uns einmal die Faktenlage an. Nach dem Landesaktionsplan für Menschen mit Behinderung in Sachsen-Anhalt sind Frauen und Mädchen mit Behinderung als besonders gefährdet identifiziert. Aber konkrete Fallzahlen gibt es nicht. Die Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten sagte neulich in der Anhörung im Sozialausschuss, dass die Zahl der Gewaltdelikte gerade gegenüber Frauen mit Behinderung steigt; sie ist exorbitant hoch und sie wird nicht weniger.

Von 19 Frauenhäusern im Land sind nur drei barrierefrei. Von 44 Beratungsstellen bieten nur drei Gebärdensprachberatungen an, zwölf sind rollstuhlgerecht und 15 machen erst gar keine Angaben zur Barrierefreiheit. Warum wohl nicht?

Bundesweite Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung mit einem erhöhten Risiko leben, Gewalt zu erfahren, besonders in Einrichtungen. Abhängigkeit, Kommunikationsbarrieren, fehlender Zugang zu Schutzangeboten, das sind die uns bekannten Risikofaktoren. Diese Fakten, meine Damen und Herren, sind alarmierend. Sie zeigen, es geht nicht um Einzelfälle, es geht um strukturelle Defizite. 

Und wir haben uns dabei längst verpflichtet, diese Strukturen zu verändern. Mit der Istanbul-Konvention haben wir zugesagt, Frauen vor jeder Form von Gewalt zu schützen und entsprechende Unterstützungs- und Strafsysteme aufzubauen. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention haben wir zugesichert, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Schutz und Teilhabe zu ermöglichen. Und diese Verpflichtungen gelten nicht nur in Berlin und in Genf, sie gelten auch hier in Sachsen-Anhalt.

Zwar existiert mit der Landeskoordinierungsstelle   kurz: LIKO   beim Paritätischen Landesverband eine Struktur, die die Hilfen koordiniert und Informationen in leichter Sprache sowie in Gebärdensprache bereitstellt. Aber für Frauen und Mädchen mit Behinderungen reicht das nicht aus. Sie brauchen mehr als diese Informationen. Sie brauchen tatsächlichen Zugang zu Barrierefreiheit, Vernetzung und erreichbare Angebote.

Meine Damen und Herren! Warum also gelingt inklusiver Gewaltschutz bislang nicht ausreichend? Die Anhörung im Sozialausschuss hat zentrale Punkte offengelegt. Vier davon möchte ich kurz benennen.

Erstens. Viele Beratungsstellen und Frauenhäuser sind architektonisch oder kommunikativ nicht barrierefrei. Assistenz- und Pflegebedarf sind vor Ort in keiner Einrichtung möglich.

Zweitens. Informationen über Hilfsangebote sind schwer verständlich, oft nur telefonisch, kaum digital zugänglich.

Drittens. Zuständigkeiten zwischen Gewaltschutz, Eingliederungshilfe und Pflege sind unklar.

Viertens. Abhängigkeit und Isolation verstärken das Risiko und erschweren zugleich den Weg in die Hilfe.

Das Ergebnis: Frauen mit Behinderung bleiben im System unsichtbar oder sie geraten bei dem Versuch, Hilfe zu suchen, erneut in Abhängigkeiten. Und doch - dort, wo sie das Hilfesystem erreichen, leisten die Frauenhäuser und Beratungsstellen Herausragendes. Das Problem ist nur, viele kommen erst gar nicht dort an.

Meine Damen und Herren! Diese Lücken müssen wir schließen. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag fünf konkrete Schritte, die auch alle in der Anhörung deutlich wurden.

Erstens, Zugang zu Schutzräumen sicherstellen. Alle Frauenhäuser im Land müssen so ausgestattet sein, dass auch Frauen mit Behinderung aufgenommen werden können, rollstuhlgerechte Zugänge, barrierefreie Bäder, Assistenzmöglichkeiten. Für Frauen mit hohem Pflegebedarf braucht es spezialisierte Schutzplätze.

Zweitens, barrierefreie Angebote ausbauen. Beratungsstellen und Schutzangebote müssen in allen Regionen erreichbar sein, geografisch, sprachlich und digital. Informationen müssen in leichter Sprache, in Gebärdensprache, schriftlich und online verfügbar sein. Nur dann ist Teilhabe am Hilfesystem möglich.

Drittens, eine Fach- und Koordinierungsstelle einrichten. Die bereits im Landesaktionsplan 2.0 angekündigte Fachstelle für inklusive Gewaltprävention muss endlich umgesetzt werden. Sie soll Wissen bündeln, Austausch fördern, Schulungen koordinieren und Materialien bereitstellen.

Viertens, bessere Vernetzung und klare Zuständigkeiten. Wir brauchen verbindliche Kooperationen zwischen Frauenhäusern, Fachberatungsstellen, Eingliederungshilfe und Pflege. Zuständigkeiten müssen klar geregelt sein, damit keine Frau zwischen den Systemen verloren geht.

Fünftens, die Frauenbeauftragten stärken. In allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe müssen Frauenbeauftragte existieren, qualifiziert, begleitet und ausgestattet. Sie sind oft die ersten Ansprechpersonen für Frauen, die Gewalt erleben oder gefährdet sind. Ihre Stärkung ist kein Symbol, sondern gelebter Schutz.

(Zustimmung bei der Linken)

Meine Damen und Herren! Sachsen-Anhalt ist ein Flächenland. Wir wissen, die Wege sind weit, die Beratungsstrukturen sind dünner als in Großstädten und Barrierefreiheit ist vielerorts noch die Ausnahme. Frauen mit Behinderung dürfen aber nicht doppelt benachteiligt sein, durch ihre Einschränkungen und durch die Entfernung zum nächsten Hilfsangebot. Wer inklusiven Gewaltschutz ernst meint, der muss hier ansetzen, regionale Erreichbarkeit verbessern, Barrierefreiheit garantieren, Assistenz und Pflegebedarf berücksichtigen.

Gewalt hat Folgen, körperlich, psychisch, sozial. Eine Investition in Schutz ist immer auch eine Investition in Teilhabe, in Selbstbestimmung und in Würde. Und, meine Damen und Herren, Gewalt entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie entsteht dort, wo Abhängigkeiten bestehen, wo Macht ungleich verteilt ist, wo Strukturen versagen.

Aber Strukturen kann man verändern, wenn man es denn will. Und Gewaltschutz darf nicht an der Türschwelle enden, die zu schmal für den Rollstuhl ist. Es darf nicht an der Sprache scheitern, die niemand versteht. Und er darf nicht an Zuständigkeitsgrenzen enden, hinter denen Verantwortung verloren geht. Unser Antrag ist ein Schritt hin zu echtem inklusiven Gewaltschutz. Wir schulden diesen Schritt den Frauen, die heute keine Stimme haben, den Frauen, die in Abhängigkeiten leben, deren Gewalterfahrungen kaum sichtbar sind und die keinen Zugang zu Hilfe haben.

Und ja, auch wenn unser Antrag den Fokus auf Frauen und Mädchen legt, dürfen wir nicht vergessen, dass auch Männer mit Behinderung betroffen sind. Auch sie brauchen Zugang und Schutz und Unterstützung; denn Gewaltschutz muss geschlechtsunabhängig sein.

(Zustimmung bei der Linken)

Meine Damen und Herren! Mit den vorgelegten Maßnahmen setzen wir den Rahmen für Gewaltprävention und Schutz, der wirklich inklusiv ist. Wir handeln damit im Sinne unserer Verpflichtungen, im Sinne der Gleichstellung und im Sinne des Menschenrechts auf Schutz, Sicherheit und Teilhabe.

Unser Ziel dabei ist klar: Kein Mensch darf im Hilfesystem verloren gehen. Es braucht politische Konsequenz, verlässliche Strukturen und den Willen, Barrieren abzubauen, physische, kommunikative und institutionelle. Unterstützen Sie unseren Antrag, damit aus Worten endlich Wirklichkeit wird für Frauen und Mädchen mit Behinderung, für ein Land, das seine Verpflichtungen ernst nimmt, für ein Sachsen-Anhalt, in dem Schutz kein Privileg ist, sondern ein Recht für alle. - Vielen Dank.