Tagesordnungspunkt 7

Beratung

Gedenkstättenfahrten verbindlich machen - Erinnerungskultur als demokratische Bildungsaufgabe stärken

Antrag Fraktion Die Linke - Drs. 8/5547


Die Einbringung erfolgt von Frau von Angern. Sie hat das Wort. - Bitte sehr.


Eva von Angern (Die Linke): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! In Sachsen-Anhalt wird das Erinnern herausgefordert. Nicht allein durch Vergessen, sondern durch gezielte Versuche, es umzudeuten. Immer häufiger erleben wir genau diese Versuche, Geschichte umzuschreiben, durch Relativierung. Statt Gedenken steht dann das Nationalgefühl im Mittelpunkt. Stolz wird als bildungspolitisches Konzept präsentiert und Zweifel daran als Schwäche ausgelegt. - Orwell lässt grüßen. 

Manche fordern, Gedenkstättenfahrten abzuschaffen, und setzen stattdessen auf sogenannte Stolzpässe, die Erinnerung durch nationale Selbstvergewisserung ersetzen sollen. Was das heißen soll, bleibt bewusst vage. Aber das Ziel, meine Damen und Herren, ist klar. Hierbei soll nicht ergänzt, hierbei soll ersetzt werden durch ein rückwärtsgewandtes Geschichtsbild, aus dem keine ethischen Verpflichtungen mehr erwachsen, sondern bloßer Sozialdarwinismus, das Recht des Stärkeren im Gewand einer plumpen Identifikation mit der Nation. 

(Unruhe)

Meine Damen und Herren! Wir setzen heute bewusst ein anderes Zeichen und wissen uns im Einklang mit vielen Schülerinnen und Schülern sowie der Bundesschülerkonferenz, die vor einigen Tagen genau das gefordert hat. Wir wollen, dass jede Schülerin und jeder Schüler in Sachsen-Anhalt im Laufe der Schulzeit die Chance bekommen    

(Anhaltende Unruhe)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Warten Sie einmal, Frau von Angern. - Ich bitte ausdrücklich darum, die Gespräche jetzt einzustellen oder den Saal zu verlassen. Es herrscht ein Lärmpegel, mit dem man nicht in der Lage ist, den Ausführungen zu folgen. - Sie haben das Wort, bitte. 


Eva von Angern (Die Linke): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Wir wollen, dass jede Schülerin und jeder Schüler in Sachsen-Anhalt im Laufe ihrer Schulzeit die Chance bekommen, eine Gedenkstätte zu besuchen. Uns geht es ausdrücklich nicht darum, Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt dazu zu verpflichten. Vielmehr geht es uns darum, die Schulen zu verpflichten, Gedenkstättenfahrten so zu planen, so zu organisieren, dass junge Menschen die Gelegenheit bekommen, mindestens einmal in ihrer Schulzeit an einer solchen Gedenkstättenfahrt teilzunehmen,

(Beifall bei der Linken)

dies eben ausdrücklich nicht als Pflichtübung, sondern als Begegnung mit Geschichten an Orten, die Fragen stellen, wo andere uns einfache Antworten präsentieren. 

Selbstverständlich soll die Gedenkstättenfahrt nicht im luftleeren Raum stattfinden. Die jungen Menschen werden nicht an einer Gedenkstätte abgegeben; damit endet die Verantwortung der Schule natürlich nicht. Ich unterstütze ausdrücklich die Ansicht des sehr geschätzten Leiters der Gedenkstätte Buchenwald Christian W., der sagt, niemand könne zum besseren Menschen gemacht oder geimpft werden gegen rechtsextreme oder antisemitische, rassistische Einstellungen, wenn er einmal eine Gedenkstätte besucht hat; wichtig sei vielmehr eine intensive Vorbereitung im Geschichtsunterricht. Doch auch Sie wissen, wie es um die Geschichtsstunden im Rahmen der Stundentafel aussieht: Die Stunden wurden und werden zusammengestrichen. Das, meine Damen und Herren, halten wir für eine eklatante Fehlentscheidung.

(Beifall bei der Linken)

Was es braucht, sind Verbindlichkeit, pädagogische Begleitung und finanzielle Absicherung, damit eben nicht Herkunft, Geldbeutel oder Wohnort darüber entscheiden, wer sich mit der Geschichte unseres Landes auseinandersetzen kann. Denn ein Gedenkstättenbesuch ist kein Ausflug, kein Wandertag. Er ist im besten Sinne Bildung.

(Beifall bei der Linken)

Wer einen solchen Gedenkstättenbesuch schon einmal miterlebt hat, der weiß, es ist ein Moment, der bleibt, ein Moment, in dem Geschichte nicht auswendig gelernt wird, sondern gespürt und verstanden wird. Es geht um Geschichte an einem Ort, den der Leiter der Gedenkstätte Sachsenburg als Rückgrat der demokratischen Gesellschaft betitelt. Ich finde, das hat er sehr, sehr zutreffend formuliert. 

Meine Damen und Herren! Um auch das klarzustellen: Es geht uns nicht um Schuldzuweisung, sondern um eine Möglichkeit zur Selbstverortung in einer offenen, demokratischen Gesellschaft. Es geht um Debatten darüber, welche Konsequenzen das gemeinschaftliche Handeln, welche Folgen die Abwertung gesamter Gruppen als minderwertig bedeuten kann. Es geht auch darum, den Gedenkstätten einen höheren Stellenwert in unsere Gedenkkultur zu geben und enger mit den Schulen zu verknüpfen, dies gerade vor dem Hintergrund des altersbedingten Verschwindens der letzten Zeitzeugen. 

Doch lassen Sie mich ebenso deutlich sagen: Erinnerung allein reicht nicht aus.

(Beifall bei der Linken)

Demokratiebildung in unseren Schulen ist heute kein nachgelagertes Bildungsziel. Sie ist eine der drängendsten gesellschaftlichen Aufgaben, die wir politisch gestalten müssen.

(Zustimmung von Stefan Gebhardt, Die Linke)

Ich kenne Lehrer, die aufgrund dieser herausgehobenen Bedeutung fordern, dass Sozialkunde kein Wahlpflichtfach mehr sein darf, sondern allen Schülerinnen und Schülern unterrichtet werden soll. Wir unterstützen ausdrücklich diesen Vorschlag.

Das alles sagen wir nicht aus einem unwohlen Bauchgefühl heraus, sondern auf der Grundlage von Daten, die Ihnen und uns allen vorliegen. Die Kriminalstatistik 2024 für Sachsen-Anhalt weist mit 178 450 Fällen zwar insgesamt einen leichten Rückgang aus, doch bei der politisch motivierten Kriminalität, insbesondere im rechten, rechtsextremen Spektrum, steigen die Zahlen bei jungen Menschen auffällig an. Im Bereich der rechtsextrem motivierten Straftaten durch Jugendliche gab es einen Zuwachs von mehr als 20 Prozentpunkten. Das ist nicht abstrakt, das betrifft Schulhöfe, das betrifft Klassenzimmer, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, ganze Lebensrealitäten.

(Oliver Kirchner, AfD: Ja, die Zuwanderung! Das ist das Problem!)

Diese Radikalisierung passiert zunehmend digital, wie wir wissen, algorithmisch verstärkt, emotional aufgeladen und oft, bevor Eltern oder Lehrkräfte überhaupt bemerken, dass etwas kippt. Was hier geschieht, ist kein Naturgesetz, keine Laune der Zeit, es ist ein Angriff auf die Demokratie, und er trifft junge Menschen zuerst. Denn Demokratiebildung ist nicht, dass man im Politikunterricht einmal eben das Wahlsystem erklärt. Demokratiebildung heißt, ganz im Konkreten Räume zu schaffen, in denen junge Menschen Beteiligung erfahren, in denen sie Konflikte austragen, Vielfalt verstehen und selbst Verantwortung übernehmen können. Doch genau diese Räume - das wissen wir - werden kleiner, nicht wegen fehlender Haltung in Schulen, sondern wegen der fehlenden Rahmenbedingungen, die wir ihnen politisch zumuten. Davor warnen wir klar und konstruktiv. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Schule nur noch das Nötigste organisiert, dass nur noch das Nötigste zugebilligt wird, wie es kürzlich die „MZ“ titelte. Sie muss ein Ort bleiben, an dem Gesellschaft tatsächlich im besten Sinne erlebbar, gestaltbar ist.

(Beifall bei der Linken)

Dazu gehören eben auch die Geschichte, der Geschichtsunterricht. Geschichte muss leben können, sie braucht Raum zur Entfaltung. Dafür braucht es politische Entscheidungen weit über diesen Antrag hinaus, das ist uns bewusst. Aber wir eröffnen einen Raum für Verantwortung, für demokratische Bildung, für mehr als Pflicht und Stundenplan. 

Nein, auch dieser Antrag ist nicht der Stein der Weisen; den gibt es nicht. Doch lassen Sie uns gemeinsam danach suchen; denn wir dürfen unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat nicht auf dem Altar von Allmachtsfantasien der extremen Rechten opfern. 

(Beifall bei der Linken)

Deshalb, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, lade ich Sie ein, diesen Antrag mitzutragen als Zeichen, dass wir bereit sind, in kleinen Schritten zu ermöglichen, was wir für unsere Demokratie als überlebenswichtig erachten. Das sind wir im Übrigen auch den Millionen Opfern des Nationalsozialismus schuldig: den 6 Millionen Jüdinnen und Juden, den 5,7 Millionen sowjetischen Zivilisten, den 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und den 250 000 Menschen mit Behinderungen und in ebenso großer Zahl den Sinti und Roma. - Vielen Dank.