Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe noch heute intensive Erinnerungen daran, wie ich - ich muss etwa 14 Jahre alt gewesen sein - das erste Mal durch die Pforten des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gegangen bin mit dieser Bedrückung, die man fühlt, und diesem Schweregefühl. Ich erinnere mich an den Raum mit den abgeschnittenen, zu Büscheln zusammengebunden Haaren, an Schuhe vom Babyschuh bis zum Damenschuh, die so viele waren, dass man sie gar nicht zählen konnte, an die fassungslosen Tränen, die mir in diesem Moment kamen, und an die Übelkeit beim Durchlaufen von Gaskammern.

Eine solche Gedenkstättenfahrt kann wirklich eindrücklich und auch erdrückend sein. Sie führt das Grauen und den Schrecken des deutschen Naziterrors bildhaft vor Augen und zeigt gleichzeitig auf, wie wenig man trotzdem von dem unfassbaren Leid weiß. Es illustriert alles, was im Geschichtsunterricht über den deutschen Nationalsozialismus gelernt wurde. Darin liegt aber auch schon der Knackpunkt. Gedenkstättenfahrten können wichtige Eindrücke liefern. Ohne eine gute pädagogische Einbindung ist es aber langfristig wenig wirksam. Laut Museumspädagoginnen in den Gedenkstätten fehlt eben viel zu oft genau das. Gleichzeitig immunisieren Gedenkstättenbesuche nicht automatisch und für sich gesehen gegen Menschenfeindlichkeit und Autoritarismus, gegen Antisemitismus, gegen Queerfeindlichkeit oder gegen Rassismus. 

Gedenkstättenbesuche waren in der ehemaligen DDR eine Pflichtveranstaltung und alle heute über 45-Jährigen hier haben sie erlebt. Eine Immunität gegen menschenfeindliche Einstellungen kann man hier nun wirklich nicht konstatieren. Mit Blick auf die Leipziger Autoritarismusstudie gilt zunehmend eher das Gegenteil. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, auch über den Unterricht hinaus, ein wichtiger und nötiger Bestandteil der Bildung, auch über das Schulalter hinaus. Vielleicht hilft dabei tatsächlich auch Reflexion, gerade mit Blick auf die alltägliche Gegenwart, mehr als Rituale.

Auch wir Bündnisgrüne wollen, dass der Besuch von außerschulischen Lernorten, die sich mit dem Schrecken des Nationalsozialismus auseinandersetzen, in den Rahmenlehrplänen verankert wird. Aber das können und sollen z. B. auch Gedenkorte vor Ort sein, die in die Erinnerungskultur einbezogen werden. Es muss nicht immer die Fahrt zum KZ Bergen-Belsen sein. Es gibt auch das Mahnmal Magda in Magdeburg, Langenstein in Halberstadt, die Gedenkstätten für die Opfer der NS-Euthanasie in Bernburg, die Synagoge Gröbzig, das Denkmal für die Opfer des Faschismus in Dessau-Roßlau oder auch die Stolpersteine in der eigenen Gemeinde. An all diesen Orten kann mitunter sehr konkret und sehr dicht am eigenen Leben verdeutlicht werden, wie sehr der Naziterror überall in Deutschland verbreitet war und stattfand. Er beschränkte sich eben nicht auf die Konzentrationslager.

In der Reflexion auf den eigenen Alltag wäre es dann vielleicht auch viel selbstverständlicher, weil die Notwendigkeit durch das Erkennen von Parallelen viel deutlicher wäre, rechtsextremistische Vorfälle an Schulen zu melden und damit umzugehen. Vielleicht hilft es auch Lehrkräften im Umgang mit dem aktuell real existierenden Rechtsextremismus, wenn sich die Auseinandersetzung damit eben nicht nur auf ritualisierte Besuche konzentriert. 

Im Gespräch mit Schülerinnen und Lehrkräften höre nicht nur ich inzwischen häufig, dass viele sich damit überfordert fühlen und sie auch durch eine falsche Interpretation des Beutelsbacher Konsenses Angst haben, sich gegen rechtsextreme Vorfälle an ihren Schulen zu wehren. Dabei ist es mitnichten so, dass sich Lehrkräfte aufgrund eines vermeintlichen Neutralitätsgebots an dieser Stelle nicht äußern dürften. Im Gegenteil: Es ist sogar die Pflicht von Lehrkräften, die Werte unseres Grundgesetzes zu vermitteln und die Demokratie auch in den Schulen zu verteidigen. Dazu gehört Widerspruch gegen eine gesichert rechtsextreme Partei auch dann, wenn diese Teil von Parlamenten ist. Denn Demokratin oder Demokrat wird man nicht durch Wahl, sondern durch Positionierung und Haltung.

(Zuruf von der AfD: Oh!)

Auch Weiterbildungen, um Rechtsextremismus begegnen zu können, gehören zu den Aufgaben für die Lehrkräfte.

Wenn wir schon beim Thema Demokratie an Schulen sind: Am besten vermittelt man die Vorzüge der Demokratie, indem man diese erfahrbar macht. Auch das fehlt an unseren Schulen derzeit oft. Schülerinnen müssen in der Schule wirksam mitbestimmen können, z. B. in der Schülerinnenvertretung, aber auch auf niedrigschwelligeren Ebenen. Das geht von Abstimmungen darüber, welches Buch im Englischunterricht im nächsten Schulhalbjahr gelesen wird, bis hin zu Klassenräten, die darüber abstimmen, welche Klassenfahrten und Exkursionen die Schülerinnen sich wünschen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, um Demokratie und demokratische Selbstwirksamkeit konkret erfahrbar zu machen. Die werden an unseren Schulen oft zu selten genutzt.

Sie sehen, dass wir GRÜNEN noch Beratungsbedarf bei dem Thema sehen und das gern weiterdenken wollen. Was uns Demokrat*innen aber eint, ist das Anliegen, Rechtsextremismus an den Schulen zu bekämpfen und Demokratiebildung zu stärken. Dafür setzen wir uns mit aller Kraft ein und deshalb sind wir auch für eine Überweisung des Antrages in die zuständigen Fachausschüsse und bedanken uns jetzt schon für die konzentrierte Diskussion über dieses wichtige Thema dort. - Danke sehr.

(Zustimmung bei den GRÜNEN, von Hendrik Lange, Die Linke, und von Henriette Quade, fraktionslos)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Frau Richter-Airijoki, ist das eine Intervention? - Okay. Bitte.

(Tobias Rausch, AfD: Oh!)


Dr. Heide Richter-Airijoki (SPD): 

Oh, ja. - Vielen Dank dafür und auch für die Nennung der Stätten, die man auch besichtigen kann und wo man wichtige Lernerfahrungen haben kann, ohne in eines der Konzentrationslager zu fahren. Ich möchte auch das ehemalige KZ Lichtenburg Prettin hier ausdrücklich nennen.

(Zustimmung bei der Linken und bei den GRÜNEN)

Es ist ein ganz frühes KZ. Es ist also nicht eines der allerschlimmsten und z. B. nicht mit Auschwitz zu vergleichen. Aber gerade dadurch ist es sehr eindrücklich für die Zeit des Übergangs. Wie schnell es gegangen ist von Resten der Rechtsstaatlichkeit bis hin zum Unrechtsstaat, das kann man im ehemaligen KZ Lichtenburg Prettin, in der dortigen Gedenkstätte sehr gut erfahren. Dort gibt es auch sehr gute Lernkonzepte dafür. Ich wollte das Ihrer Liste einfach noch hinzufügen. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Sie können darauf reagieren.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE): 

Vielen Dank, Frau Richter-Airijoki. Ich bin auch dankbar für dieses Beispiel. Das ist genau das, was ich mit der Aufzählung der anderen Möglichkeiten bezweckt habe. Ich glaube, die Auseinandersetzung gerade mit der Frühphase, jenseits dieser wirklich dräuenden und ganz entsetzlichen Abziehbilder - so will ich es jetzt nennen; das klingt viel despektierlicher, als ich es meine - wie Auschwitz oder wie Bergen-Belsen, also die Auseinandersetzung mit dem, was es auch gab, nämlich die Auseinandersetzung mit konkreten Schicksalen vor Ort, wie man sie z. B. bei der Pflege von Stolpersteinen erleben kann, ist viel wirksamer, weil sie sehr viel deutlicher macht, wie dicht, wie gefährlich nah und wie gefährdet wir an dieser Stelle schon an Zuständen sind, wie wir sie in den späten Zwanzigerjahren hatten. - Danke sehr.