Dr. Katja Pähle (SPD): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und Herren! Erwartungen an eine neue Bundesregierung aus ostdeutscher Sicht - das ist wirklich ein relevantes Thema am Beginn einer neuen Legislaturperiode in Berlin und deshalb begrüße ich, dass es heute auf der Tagesordnung steht. Ich denke, niemand unter uns hat eine naive Vorstellung davon, was eine Bundesregierung für den Osten leisten kann und was sie zu leisten bereit ist. 

Der Bundeshaushalt ist kein Füllhorn. Der Koalitionsvertrag ist kein Wunschkonzert und der Bundeskanzler ist kein Gärtner, der von Leuna bis Anklam die Landschaften zum Blühen bringt. So viel haben wir gemeinsam in 35 Jahren im wiedervereinten Deutschland gelernt. 

Wir wissen, im Osten und für den Osten wird nur das ins Werk gesetzt, wofür   w i r   entschlossen streiten, wovon   w i r   andere überzeugen und wofür   w i r   Bündnispartner gewinnen. Schauen wir uns also ganz nüchtern und kritisch den Koalitionsvertrag an und prüfen ihn darauf, wo er Chancen bietet und woran wir anknüpfen können. 

Pluspunkt Nummer eins: Diese Bundesregierung startet nicht mit der Sparlogik ihrer Vorgängerregierung. Das 500-Milliarden-€-Investitionspaket, von dem 100 Milliarden € direkt an die Länder gehen, wird einen unmittelbaren Effekt in Ostdeutschland haben, vor allem in Sachen Infrastruktur und Energiewende. 

Die Bürgerinnen und Bürger werden bald an vielen Stellen sehen können: Der Staat kümmert sich; wir kommen voran. Dieser Effekt wird noch durch die weiteren Investitionen verstärkt, die durch die Lockerung der Schuldenbremse für die Länder möglich gemacht werden. 

Wir als SPD-Fraktion wollen, dass unser Land so schnell wie möglich bereitsteht, um all diese Mittel effektiv einzusetzen, und zwar - ich sage es gern noch einmal -, vorrangig über die kommunale Ebene. 

(Beifall bei der SPD)

Pluspunkt Nummer zwei: Zuständigkeiten. Wir alle haben gefordert, der Osten muss in der Bundesregierung vorkommen, und jetzt kommt er vor. Katherina Reiche, eine Ostdeutsche als Wirtschaftsministerin - immerhin. Carsten Schneider, ein Ostdeutscher als Minister in dem für den Umbau unseres Landes so wichtigen Klima- und Umweltressort. Er weiß als langjähriger Ostbeauftragter, worauf es für den Osten in der Bundesregierung ankommt.

Reem Alabali-Radovan, eine Ostdeutsche als Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die aus eigener Erfahrung und als bisherige Staatsministerin für Integration die Perspektive von Ostdeutschen mit Zuwanderungsgeschichte einbringt. 

Zudem bleibt, wie von uns ebenfalls eindringlich gefordert, das Amt der Ostbeauftragten für Ostdeutschland erhalten. Diese Funktion wechselt mit Elisabeth Kaiser als neue Staatsministerin ins Bundesfinanzministerium, und das ist besonders interessant in Verbindung mit der Tatsache, dass auch die Zuständigkeit für die Transformationspolitik in dieses Ministerium verlagert wird. 

Schließlich ist mit Christiane Schenderlein eine weitere Ostdeutsche als Staatsministerin im Bundeskanzleramt dabei und übernimmt erstmals überhaupt aus dem Innenministerium die Sportförderung sowie das Thema Ehrenamt. Mit vier von fünf ist übrigens eine ganze Menge Frauenpower aus dem Osten in dieser Bundesregierung vertreten. 

(Beifall bei der SPD)

Pluspunkt Nummer drei: Verlässlichkeit. Der Koalitionsvertrag sichert zentrale Vorhaben, die für uns im Osten von großer Bedeutung sind. An der Stelle doppelt sich meine Rede mit dem, was der Herr Ministerpräsident gesagt hat. Das betrifft etwa den Kohleausstieg, der verlässlich mit dem vereinbarten Zeithorizont und den ungekürzten Strukturfördermitteln durchgeführt wird. Das ist eine unverzichtbare Garantie für unser Bundesland Sachsen-Anhalt. 

Das Prinzip Verlässlichkeit betrifft auch die Rentenpolitik. Das Rentenniveau wird bis zum Jahr 2031 mit 48 % festgeschrieben. Das ist gerade für den Osten mit seinen tendenziell immer noch niedrigen Einkommen und Renten von größter Bedeutung.

Kontinuität zeichnet sich auch in den Zusagen zur Qualitätsentwicklung in den Kindertagesstätten ab. Wie wichtig Sprach-Kitas und Startchancen-Kitas sind, wissen alle, die sich mit der schwierigen Ausgangslage vieler Grundschüler und -schülerinnen beschäftigen. 

Ausdrücklich plant die Koalition auch Investitionen in Neubau, Ausbau und Sanierung von Kitas. Damit können wir auf dem sehr guten System der Kinderbetreuung und -förderung in Sachsen-Anhalt aufbauen und die Qualität noch weiter steigern. 

Besonders ermutigend finde ich, gerade auch nach den Auseinandersetzungen am Ende der letzten Wahlperiode, dass die Förderung von Projekten aus dem Programm „Demokratie leben!“ fortgesetzt werden. Für Menschen, die sich vor Ort gegen das Anwachsen von Rechtsextremismus und Rassismus wehren, ist die Rückendeckung aus Berlin und Magdeburg von unschätzbarer Bedeutung. 

(Beifall bei der SPD)

Dass dieser Kampf in Ostdeutschland besonders viel Einsatz und Mut verlangt, ist leider die traurige Wahrheit. 

Und schließlich zeigt sich die Verlässlichkeit auch bei der Errichtung des Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle, die ebenfalls im Koalitionsvertrag abgesichert ist. 

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD natürlich auch Vorhaben, die erst politisch ausgehandelt werden müssen, damit sie wirksam werden können. Besonders augenfällig ist dies bei dem Thema Mindestlohn. Billiglöhne sind Gift für die wirtschaftliche Entwicklung. 

(Beifall bei der SPD)

Billiglöhne sind Gift für die Zukunftschancen Ostdeutschlands. 

(Zustimmung von Eva von Angern, Die Linke)

Billiglöhne sind eine Garantie für Altersarmut. Deshalb ist es gut, dass im Koalitionsvertrag der Weg zu 15 € Mindestlohn beschrieben wird. Es braucht aber den politischen Mut, die 15 € gesetzlich durchzusetzen, wenn es die Mindestlohnkommission, obwohl es beschrieben ist, allein nicht schafft. 

(Zuruf von Angela Gorr, CDU)

Noch wichtiger als ein auskömmlicher Mindestlohn, als unterste Grenze der Lohnskala, ist natürlich das Thema Tariflöhne für gute Arbeit. Deshalb ist es ein deutlicher Fortschritt, wenn es endlich auch ein Bundestariftreuegesetz geben wird, wie es jetzt im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde. Wie dieses Gesetz dann konkret aussehen wird, das hat auch praktische Bedeutung für Sachsen-Anhalt. Denn in unserer Koalition haben wir beschlossen, dass die in der vergangenen Woche verabredete Anhebung der Schwellenwerte in unserem Tariftreue- und Vergabegesetz nur so lange Bestand hat, bis das Bundesgesetz kommt. Hinter bundesweite Standards wollen und können wir nicht zurücktreten. 

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch drei Politikbereiche ansprechen, die für die Zukunftschancen unseres Landes besonders wichtig sind: erstens das Thema Energie. Denn eine klimaverträgliche Energieversorgung ist die Basis für unsere Zukunft als Industriestandort. Deshalb ist das Bekenntnis zum weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien eine der wichtigsten Aussagen des Koalitionsvertrages und die Grundlage für eine dauerhafte, sichere, unabhängige und bezahlbare Energieversorgung. Der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft weist den Weg zu einer nachhaltigen, klimaverträglichen Zukunft. 

Für Sachsen-Anhalt, das bei erneuerbaren Energien traditionell vorn liegt, sind das gute Nachrichten, ebenso wie der geplante Industriestrompreis. 

Zweitens will ich das Thema Gesundheit ansprechen, auch weil ich mich in den Koalitionsverhandlungen in Berlin selbst dafür engagiert habe, vor allem aber, weil eine funktionierende Gesundheitsversorgung ein wichtiger Schlüssel dafür ist, dass Menschen hier in der Region sagen: Hier kann ich gut leben. 

Die Soforthilfe für versorgungsrelevante Krankenhäuser, die Termingarantie für Facharztbesuche und die Absicherung von Apotheken im ländlichen Raum sind nur einige Beispiele dafür, dass wir uns an den ganz konkreten Problemen vor Ort orientiert haben und dass wir dabei insbesondere die strukturschwachen Gebiete im Osten und in anderen Teilen der Republik im Blick hatten. 

Schließlich das Thema Zuwanderung. Angesichts der lauten Debatte über irreguläre Migration wurde bislang wenig beachtet, dass auch die neue Koalition in Berlin eine klare Vorstellung davon hat, dass ohne Zuwanderung von Arbeitskräften unser Wohlstandsmodell keine Chance hat. Kollege Uli Thomas hat das vorhin erwähnt. 

(Zuruf)

Es ist eine Erkenntnis, die für den Osten besonders gilt, dass Menschen, die hier arbeiten und leben wollen, bei uns willkommen sind: in Sachsen-Anhalt, im Osten, in der Bundesrepublik. Das muss sichtbar gemacht werden. 

(Zuruf: Genau!)

Für diese Willkommenskultur muss auch die Bundesregierung einen Beitrag leisten, auch an ihrer Spitze. 

Die Begrenzung des Arbeitsverbots für Flüchtlinge auf drei Monate ist ein gutes Beispiel für konstruktive Ansätze, die es in der gemeinsamen Zusammenarbeit nach vorn zu stellen gilt. 

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung, die seit einer Woche - einer Woche! - im Amt ist, hat das Zeug dazu, eine gute Regierung für den Osten zu werden. 

(Zustimmung bei der SPD)

Geben wir ihr eine Chance, aber mischen wir uns auch weiterhin ein, damit der Osten, seine Probleme und seine Potenziale immer auf der Tagesordnung stehen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der SPD)


Vizepräsident Wulf Gallert: 

Frau Pähle, es gibt eine Intervention von Frau Keding. - Frau Keding, Sie haben das Wort. Bitte sehr.


Anne-Marie Keding (CDU): 

Bei der Einführung des Mindestlohns vor einiger Zeit wurde das politisch gesetzt, und es wurde verabredet, dass eine Kommission der Tarifvertragsparteien den Mindestlohn in Zukunft festsetzen soll. Wir sind diesem Grundsatz einmal untreu geworden. Aber ich halte es für existenziell, die Tarifvertragsparteien hierbei maßgeblich mit einzubinden und nicht einfach deren Ergebnis vorwegzunehmen. 

(Zustimmung bei der CDU)

Jetzt rede ich insbesondere aus der Perspektive der Landwirtschaft: Wenn Nettolöhne gleich Bruttolöhne sind und das in dieses Spiel einbringen, dann stellt das den Sektor Landwirtschaft, der auf Saisonarbeitskräfte angewiesen ist, vor enorme Schwierigkeiten. Er hat schon genug Schwierigkeiten.


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Vielen Dank für die Anmerkung, Frau Keding. - Ich habe lediglich auf das verwiesen, was im aktuellen Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Alle drei Koalitionsparteien haben sich darauf verständigt, das Verfahren zur Festlegung des Mindestlohns in der Mindestlohnkommission zu verändern bzw. anzupassen, indem die mediale Lohnentwicklung in diesen Prozess mit einbezogen wird. Ich halte diesen Wechsel für einen guten Weg, nämlich zu schauen, wie sich die Löhne insgesamt entwickelt haben, um daraus Ableitungen für die Festsetzung des Mindestlohns zu ziehen. 

Die letzte Einigung der Mindestlohnkommission, die von den Arbeitgebern blockiert wurde, ist insgesamt höher ausgehandelt worden als der vorgelegte Beschluss. Ich glaube, wenn dieser damalige Beschluss ohne das Veto der Arbeitgeber auf den letzten Metern so umgesetzt worden wäre, dann hätten wir viele Diskussionen über den Mindestlohn, auch im Bundestagswahlkampf, so nicht geführt.

Deshalb ist es gut, dass das Verfahren angepasst wurde. Innerhalb des Verfahrens - wenn man sich das statistisch ansieht - sagen viele, auch Wirtschaftsweise, dass wir dann bei einem Mindestlohn von 15 € herauskommen. Die Probleme in der Landwirtschaft sehen auch wir. Es wird immer Bereiche geben, in denen man wahrscheinlich nachsteuern muss. Aber das Verfahren ist im Koalitionsvertrag festgelegt.