Jörg Bernstein (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag auf Durchführung der Aktuellen Debatte las, war ich erst einmal über den Antragseinbringer ein wenig überrascht:

(Olaf Meister, GRÜNE: Das waren wir auch!)

die CDU. Ich habe gedacht, 

(Zuruf von der CDU: Ja!) 

bei euch ist ein gewisser Hang zum Schmerz vorhanden. 

(Lachen bei der FDP, bei der CDU und bei den GRÜNEN) 

Das ist eine Vermutung. Ich meine, es war jetzt quasi eine Einladung an die Oppositionsparteien, die gefüllten Krüge mit Spott und Häme über der Koalition auszuschütten, was bis jetzt glücklicherweise noch nicht passiert ist. Es war bisher eine sehr sachliche Debatte. 

Andererseits habe ich mir gedacht: Da das Thema von einer der Oppositionsparteien und ganz gewiss vom Kollegen Lippmann ohnehin zu uns gekommen wäre, war es natürlich clever, sich mit diesem Antrag quasi vor die Welle zu bringen und hier selbst das Thema zu setzen. 

(Ah! bei der FDP) 

Dafür erst einmal Glückwunsch!

(Guido Kosmehl, FDP: Das ist der clevere Schmerz!) 

- Das ist der clevere Schmerz, Kollege Kosmehl. Da hast du wohl recht. - Gut.

(Daniel Roi, AfD: Sie sind ein Meister im Nebelkerzenwerfen!)

Ich selbst möchte jetzt eigentlich hier auch nicht die Art und Weise der Ursachenanalyse zu den PISA-Ergebnissen weiter fortsetzen, sondern möchte einfach meinen Debattenbeitrag nutzen, um einfach ein paar Gedanken aus meiner ganz persönlichen Sicht hier zum Vortrag zu bringen. 

Provozierend könnte man fragen: Worüber regen wir uns eigentlich auf? Wir regen uns auf über mangelnde Mathematik-Kenntnisse, über mangelnde Deutsch-Kenntnisse und über mangelnde Kenntnisse in den Naturwissenschaften. Warum sind uns diese Kompetenzen wichtig? Wie gesagt, die Fragen sind provozierend. 

Vor einiger Zeit haben wir hier im Plenum über die Frage debattiert, wie es um die Bewertung des Sportunterrichtes und um die Ausgestaltung der Bundesjugendspiele bestellt ist. Jetzt könnte ich wieder provozierend fragen: Warum verfahren wir bei der Mathematik nicht nach ähnlichem Muster? Wenn es im Sport jetzt nicht so wichtig ist, irgendwelche Ergebnisse zu erreichen, warum kann man dann z. B. nicht sagen, zwei plus zwei ist fünf und der Schüler wird gelobt und dafür war es ganz dicht am Zielbereich? Also da ist was drin. Da kannst du was draus machen.

(Zuruf von Dr. Anja Schneider, CDU)

Ich stelle aus meiner Sicht eine gewisse Form von Gleichmacherei fest. Das ist meine persönliche Sicht. Darüber kann man sicherlich diskutieren. Es ist eine Gleichmacherei, die ich so in früheren Jahren und speziell auch während meiner eigenen Schulzeit nicht erlebt habe. Ich war weiß Gott bestimmt keine Sportskanone. Es war für mich nicht immer sehr motivierend, beim Fußballspiel als Letzter gewählt zu werden nach dem Motto: Jörgi, stell dich mal ins Tor, da kannst du nicht viel falsch machen. 

Dafür gab es aber andere Sachen, bei denen man gut war. Also ich war z. B. im Fach Mathematik, glaube ich, ein ganz ordentlicher Schüler. Ich habe diverse Schulolympiaden besucht bis hin zur Kreisolympiade in der Stadt Dessau. Man konnte in Lernpatenschaften seinen Mitschülern etwas mit auf den Weg geben und hat sich darüber sein Selbstbewusstsein geholt. 

(Zustimmung bei der FDP)

Eines muss ich auch sagen. Auch damals gab es Unterrichtsinhalte, die sich nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten Blick der praktischen Relevanz zugeführt haben. Aber trotzdem haben wir sie gelernt. Und das sind auch Probleme, über die heute immer so diskutiert wird: Wofür brauche ich das für das Leben? Manche Dinge erschließen sich erst im Laufe des Lebens. Dann zeigt sich, dass man die durchaus auch verwenden kann.

Und unabhängig davon, ob es nun um sportliche oder auch um andere Leistungen geht: Neben dem Talent zählen auch immer Disziplin und Fleiß dazu, um sich am Ende über Erfolge freuen zu können. Und eines lernt man dabei auch, nämlich den Umgang mit Ungleichheit, das Ertragen von Misserfolg und

(Angela Gorr, CDU: Genau!)

die Entwicklung von Motivation. 

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU) 

Ein Thema, das hier schon mehrfach zur Sprache gekommen ist, ist das sozioökonomische Umfeld. Ein günstiges sozioökonomisches Umfeld mag sicherlich unterstützend wirken. Aber der alleinige Erfolgsgarant ist es auch nicht. Ich denke, es ist auch kein Entschuldigungskriterium, wenn dieses Umfeld fehlt, weil ich denke, es gilt immer noch in dem Fall auch der alte Spruch: Jeder ist seines Glückes Schmied.

(Zustimmung bei der FDP und bei der AfD) 

Wenn ich an meine eigene Kindheit zurückdenke, dann geht es auch um Vorbilder, die im Leben wichtig sind. Meine Eltern waren für mich auch immer Vorbilder. Bei kamen in den 50er-Jahren aus den sogenannten einfachen Verhältnissen. Beide haben die 8. Klasse abgeschlossen und haben später den Schulabschluss der 10. Klasse nachgeholt. Mein Vater hat ein Meisterstudium gemacht, meine Mutter hat auch ein Fachschulstudium absolviert und war am Ende dann Hauptbuchhalterin in einem großen Kaufhaus in der Stadt Dessau-Roßlau. Ich denke, genau darauf kommt es an, nämlich dass Eltern Vorbilder für ihre Kinder sind. 

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU) 

Die Frau Ministerin hat heute in ihrer Rede auf das, was wir heutzutage aber leider oftmals sehen, hingewiesen. Es sind Erwachsene, also Eltern, die selbst verschuldet oder unverschuldet mit den vielfältigsten Fragen in der Welt nicht so recht klarkommen und ihren Kindern damit nicht den nötigen Halt und die nötige Orientierung geben können. Das zum einen im Feld der Familie. Ich denke, wir müssen die Kinder auch wieder Kinder sein lassen. 

(Zustimmung bei der FDP und bei der AfD) 

Das ist ein ganz simpler Spruch, der aber überdenkenswert ist. Also ich denke, dass dies überdenkenswert ist. Die Frage, ob Sie das auch für richtig halten, müssen wir dann einmal ausdiskutieren.

In der Familie heißt das für mich, ohne dass meine Ausführungen jetzt Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Kinder brauchen klare Regeln und Vorgaben. Viele Entscheidungen, die man schon in kleine Kinder hineinträgt, überfordern sie aus meiner Sicht. Das sind z. B. ganz simple Sachen, die mich nerven. Wenn man im Supermarkt erlebt, wie Eltern ihre Kinder fragen, möchtest du dies und möchtest du das, dann sind das alles so Sachen. Man möchte immer alles möglichst konsensorientiert aushandeln. 

Und es ist auch ein Drang in unserer heutigen Zeit: Wir müssen doch nicht alle einer Meinung sein. Man muss auch einmal mit Widerspruch umgehen können, sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen. Und einmal ganz salopp ausgedrückt: Wir müssen uns nicht unbedingt alle immer lieb haben. Aber wir müssen respektvoll miteinander umgehen. 

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU - Sandra Hietel-Heuer, CDU: Ja!)

Damit sind wir beim Thema Hierarchien. Ich denke auch, dass Kinder klare Hierarchien brauchen. Der respektvolle Umgang darf nicht mit Kumpelei verwechselt werden. Zu einem respektvollen Umgang gehören Lob und Tadel, aber auch Kritik für nicht erbrachte Leistungen. Ich denke, ganz besonders wichtig ist es in unserer heutigen Zeit auch, dass die Kinder nicht regelmäßig die Welt retten müssen. Dafür sind wir Erwachsene da. 

Um einmal den Bundesvorsitzenden meiner Partei zu erinnern: Wir dürfen uns beim Lösen von Problemen auch Profis bedienen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern die Einschätzung eigener Leistungsbereitschaft ist, denke ich, auch ein Zeichen für erfolgreiches Handeln. Damit stellen wir uns auch einer fortschreitenden Infantilisierung unserer Gesellschaft entgegen, die ich persönlich feststelle - nach dem Motto: Achtung, draußen fällt Schnee, seid bitte vorsichtig und verlasst am besten nicht das Haus. Ich meine, vor 30 Jahren hätte keiner solche Ratschläge gegeben. 

Ein kleiner Punkt noch: In Magdeburg gibt es eine ganz nette Burger-Kette, die in ihrem Namen den „Peter Pan“ hat. Ich denke, als Lebensmotto taugt ein solches Vorbild nicht unbedingt. 

Wir können nicht diese Welt aufbauen, in der wir alle immer dieses Kindliche in uns bewahren. Das wäre zwar schön, aber wird sicherlich mit den Realitäten kollidieren. 

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was wir auch brauchen: Für alle möglichen Gruppen unserer Gesellschaft gibt es die modern so bezeichneten Safe Spaces. Auch unsere Kinder brauchen sichere, geschützte Räume, in denen sie von den tatsächlichen und den vermeintlichen Krisen unserer Welt Abstand bekommen, in denen ihnen z. B. keine Angst gemacht wird, wie in der Coronakrise. Ich habe es für ein großes Vergehen gehalten, dass gesagt wurde, dass sie durch ihr Verhalten den Tod von nahen Angehörigen verursachen könnten. Das alles sind Dinge, die auf kleine Kinderseelen einprasseln und wir gar nicht wissen, was dabei in diesen Köpfen im Einzelnen abgeht.

Eine solche geborgene Umgebung ist aus meiner Sicht - wir kommen wieder zu den sozioökonomischen Verhältnissen - nicht primär an materielle Werte gekoppelt. Dazu hören dann selbstverständlich auch Klassiker wie das Vorlesen, das gemeinsame Spiel, der kommunikative Austausch in der Familie, Basteln und all diese Dinge, die wir z. B. als Defizite in den Kindertageseinrichtungen sehen. 

(Dr. Hans-Thomas Tillschneider, AfD, steht am Mikrofon)

Ich habe gerade letztlich erst wieder gelesen, was zum Vorlesen ganz bestimmt nicht dazugehört, und das sind Horrorgeschichten wie „Die besten Weltuntergänge - Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder“. Ich finde es bedrückend, dass man heutzutage solche Werke auf den Markt bringt. 

Kurz und gut, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe es auch schon bei einer anderen Gelegenheit hier gesagt - auch Frau Ministerin hat es vorhin noch einmal betont -: Es ist nicht die Schule, die quasi als Reparaturbetrieb für alle Probleme unserer Gesellschaft auftreten kann 

(Beifall bei der FDP)

und auch für Probleme, die sich außerhalb ihrer Tore aufbauen. Sie ist dafür nicht der geeignete Ort. Diese Erkenntnis sind wir auch unseren Kolleginnen und Kollegen an den Schulen, die, wie es Kollege Borchert sagte, in der Mehrheit eine hervorragende Arbeit machen, einfach nur schuldig. 

(Zustimmung von Guido Heuer, CDU)

Wir müssen diese Probleme wesentlich weiträumiger angehen und in dieser Diskussion bleiben. - Ich danke für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Herr Bernstein. Es gibt eine Frage von Frau Dr. Pähle, wenn Sie diese zulassen, und eine Intervention von Herrn Dr. Tillschneider. - Frau Dr. Pähle, bitte. 


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Vielen Dank. - Herr Kollege Bernstein. Ich glaube, hier im Haus eint ganz viele eine Bildungsbiografie, die am Ende durch Erfolg gekrönt war. 


Jörg Bernstein (FDP):

Mhm. 


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Sind Sie mit mir der Meinung, dass deshalb auch die Lebensgeschichten und die Erfahrungen der Abgeordneten hier nicht unbedingt repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung sind. In diesem Zusammenhang folgende Frage: Was machen wir denn mit Kindern, die bei schulischen Problem ihre Eltern nach Lösungen fragen und diese antworten, dass sie das ihren Kindern nicht erklären könnten, da sie es nicht wüssten? Wo finden diese Kinder Ansprechpartner und Unterstützung, wenn sie z. B. im Bildungsbereich weiter gehen wollen als ihre Eltern und auch das Zeug dazu haben?


Jörg Bernstein (FDP):

Mit der Aussage „Jeder ist seines Glückes Schmied“ drücke ich ja nicht aus, dass es Unterstützungsangebote - Sie haben vorhin zu Recht auf das Modell der Talentschulen hingewiesen - nicht geben muss. Aber als Voraussetzung, um alle Angebote erst einmal zu nutzen, ist eine gewisse innerliche Grundkonstitution erforderlich, z. B. die Erkenntnis zu reflektieren, dass ich - ich sage es jetzt einmal platt - in den ärmlichen Verhältnissen, so wie meine Eltern jetzt, nicht leben möchte, dass ich mich da herausentwickeln möchte. Wenn diese Bereitschaft dann da ist, bin ich doch der Letzte, der solchen Schülerinnen und Schülern quasi die Hand für die Unterstützung, wenn man z. B. etwas nicht weiß, verweigern würde. Es kamen die Lernpatenschaften. Das war eine super coole Sache. Ich weiß nicht, ob es das heute überhaupt noch gibt. 

(Dr. Anja Schneider, CDU, nickt)

- Es wird noch gemacht; die Kollegin Schneider nickt. 

Somit entwickeln sich z. B. auch Talente. Dort kann man das sehen und sagt sich: Mensch, das ist ein talentierter Lehrer, wie bei mir offensichtlich einer daraus geworden ist. Ich denke, man macht es sich oftmals zu einfach, wenn man immer nur darauf abstellt, man komme aus prekären Verhältnissen und habe sowieso keine Chance. Das ist eine Opferrolle, die, glaube ich, nicht sehr zielführend ist. 

(Zustimmung von Guido Heuer, CDU)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Dr. Tillschneider, bitte. 


Dr. Hans-Thomas Tillschneider (AfD): 

Vielen Dank für diese Rede. Da war vieles dabei, worüber es sich lohnt nachzudenken. Ich will das jetzt, weil es doch etwas abstrakt war, an einem Fall konkretisieren. Sie haben den schönen Satz gesagt: Man muss auch die Kinder Kinder sein lassen können. Darin stimme ich Ihnen zu 100 % zu. Aber was heißt denn das? Ich nenne z. B. die Ganztagsschule. Es gibt einen sehr interessanten Aufsatz des Bildungsphilosophen Heino Bosselmann, den ich hier schon einmal zitiert habe: „Ganztags Schule?“ Eines seiner Hauptargumente ist, dass es ein Fehler der Ganztagsschule ist, dass sie den Schultag der Kinder dem Arbeitstag der Eltern angleicht und damit die Kinder einem institutionellen Stress aussetzt. Damit können die Kinder nicht mehr Kind sein, weil sie nachmittags diese Freiräume nicht haben, bei denen man durchs Dorf stromert, vielleicht auch manchmal Blödsinn macht und sich ohne institutionelle Betreuung frei entfalten kann. Denken Sie auch so? Hat das Konsequenzen für Ihren Standpunkt zur Frage der Ganztagsschule? 


Jörg Bernstein (FDP):

Ich würde das eine jetzt nicht gegen das andere aufwiegen, ganz ehrlich gesagt. Ganztagsschule ist aus meiner Sicht kein Angebot, das letztendlich, wie Sie sagten, ganztags Schule darstellt. Wenn sie gut gemacht ist, sollte sie natürlich vielfältige Freizeitaktivitäten und Hobbys anbieten, quasi in einem rhythmisierten Ablauf der Schule als Eigenangebot. Sie werden sicherlich auch wissen, dass wir Freie Demokraten uns dem Modell einer verbindlichen Ganztagsschule auch nicht zuwenden, 

(Zustimmung bei der FDP)

sondern es sollte immer ein freiwilliges Angebot sein. Wie gesagt: Wer von diesem Angebot gern partizipieren möchte, kann es annehmen. Allen anderen bleibt am Nachmittag das Herumstromern im Wald, Fahrradfahren und Haschen spielen und alles, was man früher so gemacht hat.