Dr. Katja Pähle (SPD): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor 23 Jahren wurden die Ergebnisse der ersten OECD-Bildungsstudie mit einem Vergleich der Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den wirtschaftlich am stärksten entwickelten Staaten der Welt veröffentlicht. In Deutschland lösten diese Ergebnisse den sogenannten PISA-Schock aus. Denn anders als immer angenommen, lag das Kompetenzniveau der 15-Jährigen in Deutschland in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften deutlich unter dem OECD-Schnitt. Besonders auffällig war der große Abstand von Kindern aus wirtschaftlich schwächeren Familien und/oder mit Migrationshintergrund gegenüber ihren Altersgenossinnen und  genossen. 

Damals lösten die Ergebnisse eine Debatte über einen bildungspolitischen Kurswechsel aus. Der Fokus richtete sich auf Kitas als Ort der frühkindlichen Bildung. Ganz ehrlich: In dem Moment haben auch in den westdeutschen Bundesländern Politiker darüber nachgedacht, Kindergärten zu errichten, um Kindern und Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder dort tatsächlich an frühkindlicher Bildung teilhaben zu lassen.

(Beifall bei der SPD)

Auch damals begann eine Diskussion über die bessere individuelle Förderung in Ganztagsschulen, das längere gemeinsame Lernen und verbindliche gemeinsame Bildungsstandards. All das hat schon damals begonnen. 

An der Umsetzung hapert es freilich zumeist. Deshalb kommt das jetzige Ergebnis heute, 23 Jahre später, auch alles andere als überraschend. Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften so schlecht ab wie noch nie. Fast jeder und jede Dritte hat Probleme in Mathe; beim Lesen ist es ein Viertel. Der Lernrückstand beträgt fast ein Schuljahr und zieht sich durch alle Schulformen. Besonders besorgniserregend ist: Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler gilt als leistungsschwach. Nein, ursächlich dafür sind nicht allein die Auswirkungen der Coronapandemie oder die gestiegenen Zahlen von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. Die Werte gingen in allen untersuchten Staaten nach unten, in Deutschland aber besonders stark, und das schon vor dem Jahr 2015.

Es gibt vielmehr seit Jahrzehnten einen verfestigten Zusammenhang zwischen den Leistungen und dem sozioökonomischen Status der Kinder. Dieser wiederum ist oft untrennbar mit einer Zuwanderungsgeschichte verbunden. Wenn wir es nicht schaffen, diesen Zusammenhang von sozialer Lage und schulischen Leistungen in der Bildungspraxis zu überwinden, dann verlieren Gesellschaft und Wirtschaft das riesengroße Potenzial von Kindern, deren Eltern weniger verdienen, geringere Bildungsabschlüsse haben und zugewandert sind. 

Sicherlich gibt es Eltern, die sich nicht um die Bildung ihrer Kinder kümmern. Aber es gibt auch viele Eltern, die für einen intensiven Einsatz für die Bildung ihrer Kinder gar nicht die Möglichkeit haben, weil sie einen Vollzeitjob und einen Minijob haben, weil sie alleinerziehend sind, weil die finanziellen Mittel nicht ausreichen, um neben der Schule eigenständig Bildung und vielleicht auch Förderung durch Nachhilfe zu ermöglichen. 

Um diese Kinder, deren Eltern wir nicht verändern können und deren sozioökonomischen Status der Eltern wir anscheinend nicht verändern können, muss es uns gehen, wenn wir Förderungen und Angebote machen.

Denn diesen Kindern müssen wir den Zugang zu ihren Bildungschancen eröffnen.

(Beifall bei der SDP - Zuruf von Andreas Schumann, CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit diesem Befund können wir uns nicht abfinden. Denn in diesen Kindern schlummern Talente und Fähigkeiten wie in allen anderen. Deswegen vertreten ja die Freien Liberalen das Konzept der Talentschulen, 

(Zustimmung von Jörg Bernstein, FDP)

die Schulen aufzubauen, zu unterstützen, die in schwierigen räumlich sozioökonomischen Gebieten unterwegs sind, dort zu helfen und zu stützen.

Wir brauchen diese Jugendlichen dringend. Wer wird denn in zehn oder 15 Jahren das Auto reparieren oder die Wärmepumpe?

(Jörg Bernstein, FDP: Also!)

Wer wird denn neuer Lehrer, neue Lehrerin oder wer wird dann bei der Polizei arbeiten? - Wir haben ein strukturelles Problem mit unserem Bildungssystem, und zwar über Ländergrenzen hinweg.

Was können wir konkret tun? - Einige besonders wichtige Stellschrauben möchte ich an dieser Stelle nennen.

Erstens. Basiskompetenzen stärken. Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, der kann auch nicht gut lernen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Kinder neben dem Schulunterricht durch die Familie ihre Kompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen festigen. 

Daher brauchen wir im Schulalltag Bedingungen, die eine individuelle Förderung möglich machen. Wir müssen in der Grundschule und darüber hinaus vor allem die Bildungsbasiskompetenzen stärken. Kinder mit Lernrückständen brauchen eine zusätzliche Förderung von mindestens zwei Stunden in der Woche.

Wie erfolgreich es sein kann, hat Hamburg gezeigt, das sich mit diesem Ansatz im deutschlandweiten IQB-Vergleich von Platz 11 auf Platz 4 massiv verbessern konnte. Hierbei kann uns der Blick über den Tellerrand hinaus helfen.

Zweitens. Frühe Sprachförderung. Kinder, die bereits im Kindergarten Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung aufweisen, müssen früh gefördert werden, am besten schon in der Kita. Die Sprachkitas im Land und unsere pädagogischen Fachkräfte machen hier eine gute Arbeit.

(Zustimmung von Katrin Gensecke, SPD)

Aber auch insgesamt nehmen die Kitas eine wichtige Rolle im Bildungssystem ein. Ihre Bedeutung als Ort frühkindlicher Bildung, über die Kinderbetreuung hinaus, wird weiter wachsen. Das Programm „Bildung: elementar“ als verbindliche Grundlage für diese Arbeit in den Kitas wird derzeit überarbeitet. Dort wird die Sprachförderung einen wichtigen Part einnehmen.

Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir fangen nicht bei null an. Auch wenn die Zuständigkeit nicht im Bildungsressort liegt, findet dort Bildung statt. Vielleicht wäre es gut, die beiden Ausschüsse gemeinsam auf das Prinzip von frühkindlicher Bildung schauen zu lassen, damit man nicht den Eindruck bekommt, man müsse das Rad immer neu erfinden.

(Zustimmung bei der SPD - Guido Kosmehl, FDP: Dann müsste man das auch einmal überarbeiten!)

Drittens. Längeres, gemeinsames Lernen. Der Blick über den Tellerrand empfiehlt sich auch im internationalen Maßstab; gerade die Studie der OECD sollte dafür Anlass sein. Dieser Blick zeigt uns, Deutschland geht mit der frühen Trennung der Kinder einen Sonderweg in Europa.

Aber er macht uns nicht erfolgreicher, wie PISA gerade wieder erneut gezeigt hat. 

(Zustimmung von Susan Sziborra-Seidlitz, GRÜNE)

Estland z. B. konnte bei PISA sehr gute Ergebnisse erzielen, erreichte Platz 7. Alle Schülerinnen und Schüler lernen dort, wie in vielen anderen europäischen Ländern, bis zur 9. Klasse gemeinsam und werden nicht nach Leistungsniveaus frühzeitig getrennt.

Auch die Reise des Bildungsausschusses nach Irland hat uns wieder einmal gezeigt, wie selbstverständlich in anderen Ländern das längere gemeinsame Lernen etabliert ist. 

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von Daniel Rausch, AfD)

Ich erinnere auch an das Gespräch, dass wir gemeinsam in der konfessionellen Schule geführt haben. Auf die Frage an den Schulleiter, wie es denn mit den Unterschieden zwischen den leistungsfähigen und den etwas schwächeren Schülern aussieht und wann die Trennung erfolgt, war seine Antwort: Nobody is left behind. Jeder in Irland wird zu einem Schulabschluss geführt, 

(Zuruf von Matthias Redlich, CDU)

und zwar mit Unterstützung der Schule. Jeder bekommt einen Schulabschluss, Herr Redlich, Nobody is left behind. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von Matthias Redlich, CDU)

Viertens. Bildungsdaten sind nicht alles. Die Leistungsdaten der PISA-Studie sind für die Bildungsplanung wichtig. Aber sie zeigen uns nur das Ergebnis von Bildungspolitik und Bildungspraxis. Wichtig ist aber auch - ich komme erneut auf das Beispiel Irland zurück  , die sozioökonomische Ausgangslage einzubeziehen oder - anders gesagt - den Blick darauf zu richten, wie und wo die Kinder leben, wie sie aufwachsen und wie schwer der Rucksack ist, den sie mitbringen, wenn sie im Schulsystem ankommen.

Irland mit seinen seit Jahrzehnten bestehenden konservativen Regierungen ist ganz gewiss kein Hort sozialistischer Gleichmacherei. Trotzdem ist es dort selbstverständlich geworden, dass insbesondere in Schulen in jenen Stadtteilen investiert wird, in denen die Kinder von zu Hause aus keine guten Voraussetzungen für höhere Bildungskarrieren mitbringen.

Und: Schulen brauchen mehr Eigenständigkeit. Sie müssen sich in ihren Kommunen vernetzen, sie müssen sich austauschen, sie benötigen Kontakt zu Vereinen, Verbänden und Anbietern. Sie müssen tatsächlich in der Lage sein, geeignete Lösungen für die Schule und für den Betrieb der Schule vor Ort zu finden. An dieser Stelle, glaube ich, können wir sehr viel tun.

Und: Wir müssen schauen, welche Möglichkeiten sich tatsächlich durch Corona ergeben haben. Es geht dabei nicht nur allein um Digitalisierung, sondern auch um die Veränderung von Schulkonzepten, um die Veränderungen im Unterricht. An vielen Stellen stoßen wir immer noch auf ein Schulsystem, in dem anscheinend der 45-Minuten-Unterricht von Moses vom Berg Sinai heruntergetragen wurde. Das kann doch nicht sein.

Schule muss sich verändern. Schule braucht Freiraum. Schule braucht Möglichkeiten, um Kinder zu unterstützen und anderen das Voranschreiten zu ermöglichen. Auch hierfür können wir gemeinsam sehr, sehr viel auf den Weg bringen.

(Zustimmung bei der SPD)

PISA ist nicht nur dazu da, Schockwellen durch das Land zu senden. Um die Ergebnisse konstruktiv zu nutzen, müssen wir uns umfassend mit den Erkenntnissen der Bildungsforschung auseinandersetzen, sie bewerten und handeln. Ich glaube, das ist unsere gemeinsame Aufgabe. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei den GRÜNEN und von Jörg Bernstein, FDP)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Frau Dr. Pähle. - Es gibt zunächst eine Frage von Frau Sziborra-Seidlitz und eine Intervention von Herrn Redlich. Lassen Sie die Frage zu?


Dr. Katja Pähle (SPD):

Ja.


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz, bitte.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank, Frau Dr. Pähle. - Frühkindliche Bildung haben Sie als Aufgabe betont. Sie haben auch deutlich gemacht, dass die frühkindliche Bildung im Aufgabenfeld des Sozialministeriums liegt, nicht im Aufgabenfeld des Bildungsministeriums. 

Ich finde den Ansatz sehr sinnvoll, in beiden Ausschüssen einmal gemeinsam darüber zu beraten. Für wie wichtig halten Sie es, dass an dieser Stelle auch beide Ministerien konzeptionell zusammenarbeiten? Sehen Sie einen Weg dafür?

(Zustimmung bei den GRÜNEN)


Dr. Katja Pähle (SPD):

Bildung, erst recht, wenn wir den Begriff des lebenslangen Lernens ernst nehmen, vollzieht sich von der frühkindlichen Bildung, über die Schulbildung, die Ausbildung, die Weiterqualifizierung etc. pp. Wenn wir den Bogen so weit spannen, dann muss ich ganz ehrlich sagen, betrifft es nicht nur das Bildungsressorts und das Sozialressorts, sondern auch das Wirtschaftsressort, das Wissenschaftsressort.

(Lachen auf der Regierungsbank)

Ich finde es sinnvoll. 

(Unruhe)

Denn dass immer wieder darauf gezeigt wird, weil in einem anderen Haus etwas nicht so umgesetzt wird, wie man es selbst gern hätte, führt, glaube ich, nicht in die richtige Richtung. 

Es ist auch wichtig, voneinander zu wissen, was an welcher Stelle stattfindet, was auch tatsächlich mit dem Blick auf Ergebnisse darstellbar und evaluierbar ist. Ich glaube, ein solcher Austausch, auch unter den Abgeordneten des Hauses, kann insgesamt zur Wissenserweiterung beitragen. 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Vielen Dank, Frau Dr. Pähle. - Es folgt Herr Redlich.


Matthias Redlich (CDU):

Sie haben recht, ein solcher Austausch kann zur Wissenserweiterung beitragen. Es ist aber auch immer interessant zu sehen, wie selektiv man Sachen wahrnimmt. Denn in Irland wurde auch ganz klar gesagt, dass es dort Prüfungen in einem Zweiwochenzeitraum gibt, in welchem massiv geprüft wird. Wer es in diesem Zeitraum nicht schafft, bestimmte Werte auf einer Punkteskala zu erreichen, der kommt nicht weiter.

(Ministerin Eva Feußner: Richtig!)

Das ist der Leistungsanspruch. Der Schüler wird dann erst einmal zurückgestellt und darf schauen, wie er es schafft, beim nächsten Mal die Punkte zu erreichen. Er muss sich erst einmal einbringen. 

(Zuruf von Dr. Andreas Schmidt, SPD)

Es ist eben nicht so, dass dort alles so durchlässig ist - wie Sie es gerade beschrieben haben  , sondern es ist so, dass dort eben auch gefordert wird, dass dort klare Leistungsansprüche definiert sind, und dass wir dort ein Schulsystem haben, in dem nicht alles gleich ist, sondern das gegliedert ist, in dem man durch Leistung in verschiedene Bereiche kommt und auch weiterkommt. Genau das wurde in Irland beschrieben; so habe ich es wahrgenommen.

(Zustimmung bei der CDU - Ministerin Eva Feußner: Richtig! - Zuruf von Andreas Schumann, CDU)


Dr. Katja Pähle (SPD):

Herr Redlich, ja, als wir an dieser konfessionellen Schule waren, haben wir uns auf diesen Aspekt konzentriert. Ich habe von dort mitgenommen, erstens dass diese Prüfungen nicht in der 4. Klasse durchgeführt werden, sondern deutlich später, nach längerem, gemeinsamen Lernen. 

Zweitens. Was haben wir bei unserem Besuch - ich kann den irischen Namen nicht mehr rekapitulieren  , als es um die Berufsausbildung, um dieses College, ging, gehört? - Dass alle diese Sachen, die man im Laufe seiner schulischen Bildung nicht direkt erreicht hat, dort nachgeholt werden können, um den nächsten Sprung zu schaffen.

0Genau das verstehe ich unter „Nobody is left behind“. Keine Entscheidung auf dem Bildungsweg darf jemals in eine Sackgasse führen. Wir brauchen Möglichkeiten, um immer wieder weiterzukommen, wenn es um die Verwirklichung des eigenen Bildungsanspruchs und der eigenen Potenziale geht. 

(Guido Kosmehl, FDP: Das haben wir doch in Deutschland! - Zuruf von Hendrik Lange, DIE LINKE)

Ich glaube, an diesen Stellen haben wir allein in unserem gegliederten Schulsystem bereits einiges, was wir verbessern können, aber vor allen Dingen auch im Bereich danach. Wir haben hierbei unterschiedliche Meinungen. Aber so ist das.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN - Unruhe)