Dr. Andreas Schmidt (SPD): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und Herren! Preußen ist wie eine neue Wolljacke; sie kratzt ein bisschen, aber sie hält warm - das hat Otto von Bismarck gesagt, den manche für einen großen deutschen Politiker halten.

(Zuruf: Oh!)

Und er hat ganz sicher - das kann keinem Zweifel unterliegen - an das preußische Haushaltsrecht gedacht; schließlich ist er im Jahr 1862 in einer Haushaltskrise preußischer Ministerpräsident geworden. Die Grundlagen unseres Haushaltsrechts sind in Preußen erfunden worden.

Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Wolljacke, zu ihrem Zuschnitt, ihrer Größe und der Waschanleitung, Recht gesprochen. Die Politik muss ihr Handeln nach dieser Rechtsprechung ausrichten. - So weit, so normal.

In dem Fall, der heute zur Einbringung eines Nachtragshaushalts für uns führt, sind wir nicht direkt Adressat dieses Urteils, unser Sondervermögen war auch nicht Gegenstand, aber - der Minister hat es ausgeführt - mit Blick auf verschiedene Aspekte, Jährlichkeit, Jährigkeit und Begründungsnotwendigkeit der Notlage in jedem Jahr, betrifft es auch uns. Wir sind gehalten, unser Sondervermögen auf eine verfassungsrechtlich saubere Grundlage zu stellen. Die Koalition hat sich darauf verständigt, den Weg des hier vorgelegten Nachtragshaushalts zu gehen. - So weit, so normal ebenfalls.

Wenn man sich nun die öffentliche Debatte anguckt, die auf dieses Urteil gefolgt ist, kann man sich schon die Augen reiben. Dabei geht es um Gewinner und Verlierer, um Sieg und Niederlage, um Handwerk, um angebliche Fehler, um fehlende Seriosität und angeblich notwendige Entschuldigungen. Der Minister hat schon darauf hingewiesen: Das Volk der Fußballtrainer hat auf einmal eine politische Klasse von Verfassungsrechtsexperten.

Der Hinweis darauf, dass der Bundestag und fast alle Landtage vor dem Hintergrund von Krisen mit äußeren Ursachen - mit Corona begann es - zum ersten Mal versucht haben auszubuchstabieren, was eine Notlage nach Artikel 115 des Grundgesetzes bedeutet und wie in einer solchen Notlage gehandelt werden kann, klingt an dieser Stelle schon fast wie eine verlegene Entschuldigung; er ist aber richtig und berechtigt.

Viel schlimmer ist doch: Die Suche nach Schuld und Schuldigen, die derzeit in den Medien so intensiv passiert, verdeckt, dass das Bundesverfassungsgericht zwei Probleme der geltenden Rechtslage offengelegt hat, für die aus meiner Sicht nicht das Urteil das Problem darstellt, sondern die Rechtslage. Dass das Gericht feststellt, dass die geltenden Regeln einzuhalten sind, ist seine Aufgabe. Das bedeutet nicht, dass die geltenden Regeln auch gut sind.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich beginne mit Jährlichkeit und Jährigkeit. Diese Grundsätze - das sagt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe - gelten auch in Krisen und auch für Sondervermögen. Sie haben Verfassungsrang. Artikel 110 des Grundgesetzes regelt das. Wir haben eine fast wortgleiche Regelung in der Landesverfassung. 

Aber sind diese Beschränkungen so, wie sie aufgeschrieben sind, heute noch sinnvoll? Der große Kurfürst, dem wir die Jährlichkeit von kameralen Haushalten verdanken, hat ganz sicher die heutigen Planungsvorläufe, die förderrechtlichen Vorgaben und die Verschränkung von europäischem mehrjährigen Finanzrahmen und Bundes- und Landeshaushalten nicht vorhergesehen. Die Wolljacke ist in Wirklichkeit nämlich schon ganz schön alt.

Statt den Spielraum des Urteils in dieser Hinsicht auszudeuten oder mehrjährige Sondervermögen aus jährlich neuen Kreditaufnahmen zu speisen, erscheint es mir sinnvoll, darüber nachzudenken, wie wir vom starren Rahmen eines Kalenderjahres wegkommen, ohne das Haushaltsrecht und die Klarheit seiner zeitlichen und sachlichen Bestimmungen für Ausgaben zu gefährden. 

Wesentlicher noch ist an dieser Stelle die Frage des sachlichen Veranlassungszusammenhangs zwischen Notlage und Kreditermächtigung. Unser Antrag besagt: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Krise, für die wir das Sondervermögen begründet haben, die Coronakrise, nicht in einem Jahr aufgeräumt werden kann. Es liegt in der Natur der Sache - das ist die Formulierung. Das ist so logisch, dass man es gar nicht weniger hinterfragbar aufschreiben kann, weil das eigentlich total klar ist. So sind aber das Grundgesetz und unsere Landesverfassung nicht ausformuliert.

Das Urteil hat den Artikel 115 GG an dieser Stelle angemessen gedeutet, nämlich kurz und dunkel, und hat gesagt: „So, wie ihr das jetzt macht, könnt ihr das nicht machen“, ohne einen Rahmen vorzugeben, wie denn nun der Begriff Notlage zu verstehen sei. Das ist deswegen angemessen, weil die Formulierung in Artikel 115 des Grundgesetzes genauso kurz und dunkel ist: außergewöhnliche Notlage. Was ist denn das? Das ist im Grundgesetz nicht ausbuchstabiert. 

An dieser Stelle, meine ich, muss das Grundgesetz klarer werden. Das heißt: Eine Reform Schuldenbremse - damit bin ich ganz bei unserem Ministerpräsidenten - ist nötig.

(Beifall bei der SPD)

In der öffentlichen Debatte - das hätte man erwarten können - hat die Verständigung über eine solche Reform nicht stattgefunden, ist verdrängt worden von Festspielen des erhobenen Zeigefingers. 

(Zustimmung)

Friedrich Merz ist sogar so weit gegangen, die eigenen Ministerpräsidenten in Sachen Notwendigkeit der Reform der Schuldenbremse auf den Topf zu setzen. Das kann man machen. Das kann man wahrscheinlich nicht sehr oft machen, wenn man Parteivorsitzender bleiben will. Vor allem kann man das aber nur machen, wenn man wirklich für gar nichts Verantwortung trägt. 

Das gilt übrigens auch für den Vorschlag, das Bürgergeld nicht zu erhöhen. Dasselbe Bundesverfassungsgericht, mit dessen Urteil Herr Merz jetzt herumwedelt 

(Zurufe)

und die Bundesregierung wegen Missachtung des Grundgesetzes schilt, hat in Sachen Bürgergeld genau die Vorgaben gemacht, die die Ampel jetzt umsetzt.

(Beifall bei der SPD - Zurufe)

Man kann Karlsruhe eben nicht nur dann ernst nehmen, wenn es einem in den Kram passt.

(Unruhe bei der AfD)

Die Frage nach der Schuldenbremse in Notlagen ist kein Hügel, den es in der politischen Schlacht zu erobern gilt, um die Fahne des Besserwissens zu schwenken.

(Zuruf)

Sie muss beantwortet werden, wenn dieses Land steuerbar bleiben und seine Aufgaben erfüllen soll.

Dabei geht es zunächst gar nicht darum, das Schuldenmachen zu erleichtern. Es geht zunächst darum zu klären, unter welchen Bedingungen das Schuldenmachen geht. Die Länder - so auch wir - sind unmittelbar betroffen. Das ist nicht eine Debatte, die nur im Bundestag stattfinden kann, weil die auch uns etwas angeht.

Betroffen sind wir aber nicht nur, was die Verfahren und die Grenzen der Feststellung von Notlagen angeht, betroffen sind wir auch inhaltlich, was die Finanzierung der öffentlichen Aufgaben betrifft. Darüber werden wir in diesen Tagen dank der GRÜNEN noch eine Debatte führen.

Es ist, auch wenn wir uns an dieser Debatte zu beteiligen haben, nicht an uns, die Lösung zu beschließen. Wir dürfen und müssen dem Bundestag aber den Handlungsbedarf klarmachen und auch klarmachen, dass man mit ein paar flotten Sprüchen am Rednerpult dieses, unser Problem dauerhaft nicht lösen wird und dass es uns spätestens in der nächsten außergewöhnlichen Notlage einholt.

Ich bin übrigens ausgesprochen dankbar dafür, dass die Liberalen an dieser Stelle schon einmal den Kopf schütteln. Denn das ist genau das, was wir brauchen: eine Debatte darüber, wie wir das in Zukunft handhaben werden. Ich entnehme dem Kopfschütteln, dass die liberale Seite hier im Haus eine Meinung dazu hat und bereit ist, diese auch zu sagen. Damit fängt diese Debatte an. Das finde ich ganz wichtig.

Ich bin froh, dass unser Ministerpräsident sich an dieser Stelle schon öffentlich dazu eingelassen hat, was den Reformbedarf bei der Schuldenbremse betrifft. Ich sage Ihnen, Herr Ministerpräsident: Meine Fraktion steht in dieser Sache ganz und gar hinter Ihnen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD - Oh! bei der AfD - Zuruf)