Prof. Dr. Armin Willingmann (Minister für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! In der Tat vertrete ich im Moment Frau Kollegin Grimm-Benne, die auf der gemeinsamen Tagung der Kultusministerkonferenz und der Jugend- und Familienministerkonferenz in Berlin ist, aber zu späterer Stunde noch zu uns kommen wird. - Ihre Rede:

Der Fall der Mauer war mitnichten das Ergebnis eines natürlichen Erosionsprozesses am Fundament des Bauwerks der Unfreiheit. Die Friedliche Revolution war das Werk der DDR-Bürgerinnen und  Bürger, die mit unfassbarem Mut in Leipzig, Halle, Magdeburg, Rostock und an vielen anderen Orten für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Diese Leistung hat sich unverrückbar in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und muss als Ausgangspunkt benannt werden, um den Prozess der Einheit mit Selbstbewusstsein und Respekt zu gestalten.

Als Frau Kollegin Grimm-Benne die Begründung zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE zu 33 Jahren der Wiedervereinigung las, kam ihr ein Satz des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschen Einheit in Erinnerung. Ich zitiere: „Nicht Populismus und Polarisierung, sondern Gemeinsinn und Kooperation sind das Gebot der Stunde.“

(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Dafür tragen wir alle Verantwortung.

Die Auswirkungen der Friedlichen Revolution betrafen nicht nur Industrie und Wirtschaft, sondern ganz konkret Familien, die biografische Brüche nicht nur ökonomisch, sondern auch mental verarbeiten mussten. Enttäuschungen über nicht im erwarteten Umfang erfüllte Versprechungen von blühenden Landschaften, aber auch Enttäuschungen über politische Entscheidungen der westdeutschen Elite und über die Härte der Marktwirtschaft wirken bis heute nach.

Auch diese vielen individuellen Geschichten sind Teil des kollektiven Gedächtnisses. Wir alle sind daher gefordert, die politischen Rahmenbedingungen immer wieder mit der gebotenen Sensibilität zu gestalten.

Lassen Sie uns deshalb einen objektiven Blick auf den Stand der Wiedervereinigung werfen, insbesondere auf die Gerechtigkeitsthemen, die in dem Antrag auch angesprochen wurden: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Ausbildungs- und Karrierechancen, Gleichberechtigung der Geschlechter sowie Renten, die im Alter ein würdevolles Leben sichern.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das zentrale Gerechtigkeitsthema Rente hat viele Jahre lang das Gefühl verstärkt, dass ostdeutsche Biografien weniger wert, dass Ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse seien.

Zum Juli dieses Jahres, und damit mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, wurde das Niveau der Renten in Ost und West angeglichen; längst überfällig, aber immerhin ein Jahr eher als ursprünglich beabsichtigt.

Die materielle Anpassung war ein bedeutsamer Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit. Doch es geht eben auch um das Gefühl, gleichwertig zu sein, darum, die eigene Lebensgeschichte angemessen abgebildet zu finden und Unterschiede möglichst schnell zu beseitigen.

Mit der aktuellen Ausgestaltung der Stiftung des Bundes zur Abmilderung von Härtefällen in der Ost-West-Rentenüberleitung für jüdische Kontingentflüchtlinge und Spätaussiedler, die sogenannte Stiftung Härtefallfonds, werden - so hat es Herr Ministerpräsident Dr. Haseloff am 22. März dieses Jahres hier im Hohen Haus zum Ausdruck gebracht - bei Weitem nicht alle betroffenen Gruppen erreicht. Im Ergebnis ist das Land dem Härtefallfonds nicht beigetreten. 

Der Ministerpräsident hat bekanntermaßen dargelegt, dass die Landesregierung weiterhin im Austausch mit den ostdeutschen Ländern steht, um eine der Beschlusslage der MPK Ost entsprechende tragfähige Lösung zu finden. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten hat die Lohnentwicklung an Fahrt aufgenommen. Die Brutto- und Nettostundenlöhne stiegen deutlich schneller als in den 90er-Jahren und in den 2000er Jahren. So lag das Bruttolohnniveau der ostdeutschen Länder 2022 laut Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt  und Berufsforschung bei 88 % des westdeutschen Niveaus. Im Jahr 1996 betrug der durchschnittliche Bruttolohn in Ostdeutschland hingegen nur 77 %. Trotzdem - das gehört zu einem objektiven Resümee - liegt der durchschnittliche Bruttostundenverdienst im Osten mit 21,55 € noch immer deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 27,04 € und dem des Westens von 27,90 €.

Der Mindestlohn hat dazu beigetragen, dass die untersten Leistungsgruppen im Osten in besonderer Weise von den Lohnzuwächsen profitierten. Allein in Sachsen-Anhalt sorgte die Mindestlohnerhöhung bei rund 160 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten für mehr Geld im Portemonnaie. Zählt man die Minijobber dazu, geht man sogar von 240 000 Beschäftigten aus. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! All die Entwicklungen zeigen, dass die neuen Bundesländer trotz schwieriger Ausgangslage bereits beachtliche Fortschritte erzielt haben. Betrachten wir allerdings die Wirtschaftsstruktur in Ost und West, müssen wir nach wie vor unterschiedliche Firmengrößen und  strukturen konstatieren. Wertschöpfung und gut bezahlte Jobs konzentrieren sich auf Großstädte. Deren Siedlungsdichte ist im Osten aber gerade geringer. Solange es hierbei Unterschiede gibt, wird es auch Differenzen in den durchschnittlichen Lohnhöhen geben, daran angepasst auch in den Lebenshaltungskosten.

Daher gilt es, insbesondere in die Wirtschaftszweige der Zukunft zu investieren und ich darf einschieben: Das ist ja in den vergangenen Jahren auch eindrucksvoll geschehen. Die Intel-Ansiedlung ist das Leuchtturmprojekt. Aber wenn Sie sich die Zeit nach 2016 einmal anschauen, was an Ansiedlungen gelungen ist im ganzen Lande, dann sehen Sie, dass tatsächlich in Wirtschaftszweige der Zukunft investiert wurde, auch und gerade mit Unterstützung von uns, durch die Landesregierung, auch durch die letzte. Und wir haben in einer besonderen Weise Wissenschaft und Wirtschaft vernetzt. Darum beneidet uns auch mancher in den alten Bundesländern.

Naturgemäß steht die Entwicklung des Einkommens immer auch im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Dabei haben wir durch intensive Nutzung der Instrumente der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW, viel erreicht. Das IWH, das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, hat die Effekte der einzelnen betrieblichen Förderungen für den Zeitraum von 2009 bis 2016 untersucht. Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass das zusätzliche Wachstum der Beschäftigung in GRW-geförderten Betrieben bis fünf Jahre nach Ende der Förderung knapp 12 % höher liegt als in den nicht geförderten Betrieben. Ganz klar, prosperierende Betriebe bilden die Voraussetzung für gute Einkommen. Deshalb ist übrigens die GRW-Förderung, eine klassische Subvention, so wichtig

(Zustimmung von Guido Heuer, CDU, und von Andreas Silbersack, FDP)

- darum kümmert sich ja auch unser Wirtschaftsminister - und bleibt in den nächsten Jahren ein wichtiges Instrument unserer Wirtschaftspolitik.

Auch in Bezug auf das dritte Gerechtigkeitsthema, die Gleichstellung, ist das Bild von Sachsen-Anhalt, das DIE LINKE in der heutigen Debatte gezeichnet hat, ein Zerrbild. Denn Frauen in West- wie in Ostdeutschland haben in puncto Bildung, Erwerbstätigkeit und sozialer Absicherung gegenüber Männern aufgeholt. Auch wenn Kollegin Grimm-Benne gern zugesteht, dass sie sich wünscht, dass dieser Aufholprozess schneller vollzogen würde. 

Davon unbenommen zeigt eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung ganz aktuell, dass die Abstände zwischen Frauen und Männern im Osten bei 15 von 22 wichtigen Indikatoren zu Themen wie Erwerbsbeteiligung, Arbeitszeit, Bezahlung, Führungsposition oder Absicherung im Alter deutlich kleiner sind als im Westen. 

Auf dem Weg zu einem für beide Geschlechter gleichberechtigt zugänglichen Arbeitsmarkt brauchen wir jedoch einen Kulturwandel. Dass ein solcher nicht allein vom Staat herbeigeführt werden kann und das Bohren dicker Bretter erfordert, wissen Sie, Frau von Angern als ehemalige Vorsitzende des Landesfrauenrats Sachsen-Anhalt selbst nur zu gut.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei den Gerechtigkeitsthemen Rente, Arbeitsmarkt und Gleichstellung sind wir auf einem guten Weg. Deshalb sollten wir diesen Weg mit Zuversicht weitergehen und gemeinsam Steine aus dem Weg räumen. Durch konkrete Sachpolitik müssen wir verbleibende Gerechtigkeitslücken zwischen Ost und West schließen und verlorengegangenes Vertrauen in die demokratischen Institutionen zurückgewinnen.

Zu Beginn der Rede wurde Bezug darauf genommen, welchen Wert Gemeinsinn und Kooperation haben. Wir sollten uns darauf besinnen und auf die historische Leistung der friedlichen Revolution und auf das unschätzbare Engagement derjenigen, die sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten tagtäglich in diesen fortdauernden Einigungsprozess einbringen. Lassen Sie uns aber davon Abstand nehmen, eine Spaltung herbeizureden. Nur gemeinsam können wir die Gerechtigkeitslücken schließen. Nur gemeinsam können wir die Geschichte von Einigkeit und Recht und Freiheit fortschreiben. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)