Tagesordnungspunkt 31

Beratung

Gewaltschutz und Hilfssysteme im Sinne der Istanbul-Konvention - Ausbau und Umsetzung jetzt!

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/3052

Alternativantrag CDU, SPD, FDP - Drs. 8/3090


Einbringerin für die Fraktion DIE LINKE ist Frau von Angern. - Bitte sehr, Sie haben das Wort.


Eva von Angern (DIE LINKE):

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Sie ist ein im Jahr 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag, der verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und bei häuslicher Gewalt schafft.

Im Oktober 2017 wurde das Übereinkommen in Deutschland ratifiziert und trat am 1. Februar 2018 in Kraft. Kurzum: Der Auftrag der Istanbul-Konvention ist für Deutschland und damit auch für alle staatliche Gewalt in Sachsen-Anhalt bindend.

(Unruhe)

- Ehrlich gesagt, wird immer klarer, warum ich für mehr Frauen im Parlament bin. - Danke, dass Sie mir zuhören, liebe Kolleginnen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der SPD)

Die 81 Artikel der Istanbul-Konvention enthalten umfassende Verpflichtungen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zum Schutz der Prävention, aber auch zur Bestrafung der Täter und Täterinnen. Die Konvention zielt damit zugleich auf die Stärkung der Gleichstellung von Mann und Frau und des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben ab. - So weit zur Theorie bzw. zu dem verbindlichen Anspruch an die öffentliche Praxis auch in unserem Land.

Gleich vorweg: Deutschland und auch Sachsen-Anhalt im Besonderen haben bereits Verpflichtungen aus der Konvention umgesetzt. Das ist löblich und für viele Betroffene im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich existenziell.

Ich will Ihnen aber auch nicht vorenthalten, dass der Europarat im sogenannten GREVIO-Bericht Deutschland gravierende Defizite im Gewaltschutz attestiert hat. Die Kritik besteht unter anderem darin, dass es in Deutschland bis heute keine bundesweite Strategie gibt, um dieses Abkommen umzusetzen. Es fehle ein übergreifender Plan, in dem klar definiert wird, was Gewalt gegen Frauen überhaupt bedeutet, wie sie bekämpft werden soll und an welchen Stellen es zusätzliche Bedarfe gibt. Tatsächlich ist nicht einmal erkennbar, wie viel Geld Deutschland für Gewaltschutz ausgibt. Mit dieser Kritik sind in der Folge eben die Bundesländer, aber auch die Kommunen gemeint.

Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz gibt uns auch in der Landespolitik den Auftrag der gleichwertigen Lebensverhältnisse. Dazu gehört eben auch, dass es nicht vom Wohnort abhängig sein darf, ob und wie ich vor Gewalt geschützt werde.

(Zustimmung bei der LINKEN, bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das, meine Damen und Herren, gilt auch für die sogenannten vulnerablen Gruppen. Damit meine ich im Besonderen Frauen und Mädchen mit Behinderungen, Frauen und Mädchen, die nicht gut Deutsch sprechen oder durch einen Aufenthaltstitel an eine Region gebunden sind, sowie weitere Gruppen.

Um das Problem an einer Zahl deutlich zu machen: Aktuell gibt es in Deutschland rund 5 086 Plätze in Frauenhäusern. Aufgrund der Fallzahlen häuslicher Gewalt wird empfohlen, dass ein Platz pro 10 000 Einwohner zur Verfügung stehen muss, um Betroffenen ausreichend Schutz zu bieten. Diese Zielzahl verfehlt jedes Bundesland, auch Sachsen-Anhalt. Das bedeutet ganz konkret: Wir haben von Gewalt betroffene Frauen, denen der Weg in eine sichere Zuflucht versperrt bleibt. Es kommen weitere Hinderungsgründe dazu; darauf gehe ich später ein.

Schauen wir konkret nach Sachsen-Anhalt; wie sieht es hier aus? - In Sachsen-Anhalt gibt es 19 Frauenhäuser mit 117 Plätzen für die Frauen. Wir wissen, die Kinderplätze werden nicht extra finanziert. Wir haben neun Frauenberatungsstellen, sieben Frauenzentren. Eine Frauenberatungsstelle in Magdeburg - darauf können wir sehr stolz sein - richtet sich insbesondere an von Gewalterfahrungen betroffene Frauen und Mädchen mit Behinderungen. Wir haben VERA - die Fachstelle gegen Frauenhandel und Zwangsverheiratung  , vier Interventionsstellen, vier Beratungsstellen für Betroffene von Opfer sexualisierter Gewalt und außerdem ProMann - die Täterberatungsstellen in Magdeburg, Dessau und Halle.

Unter www.gewaltfreies-sachsen-anhalt.de können Sie sich, sofern Sie es in Vorbereitung auf diesen Tagesordnungspunkt nicht schon gemacht haben, anschauen, welches Hilfesystem in Sachsen-Anhalt für Betroffene von Gewalt im sogenannten sozialen Nahraum zur Verfügung steht. Das Netzwerk für ein Leben ohne Gewalt ist seit dem Jahr 2008 unermüdlich in Aktion, um für das Thema und die Situation der Betroffenen zu sensibilisieren, aufzuklären, aber vor allem um Hilfe zu vermitteln.

Das Hilfesystem in unserem Land ist sehr vielfältig zusammengesetzt; das haben Sie an den Institutionen gesehen, von denen ich gesprochen habe. Selbstverständlich gehören zu dem Netzwerk auch die kommunalen Gleichstellungsbeauftragten. Hinter all diesen Institutionen stehen sehr engagierte Frauen, aber auch Männer, manche im Hauptamt, aber die meisten im Ehrenamt, denen ich an dieser Stelle auch namens meiner Fraktion ausdrücklich für ihr Engagement danken möchte.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Ich möchte Ihnen vor allem danken, weil sie quasi das Hilfesystem überwiegend im Ehrenamt rund um die Uhr am Laufen halten. Auch in Krisensituation wie in der Pandemie haben sie Sorge dafür getragen, dass Beratungsstellen und Frauenschutzhäuser für die Betroffenen von häuslicher Gewalt offen standen. Mit viel Herzblut und mit viel Kreativität haben Sie Beratungen beim Kaffee to go im Park unter freiem Himmel realisiert. Mit viel zusätzlicher Arbeit war es möglich, sämtliche Hygienevoraussetzungen so zu erfüllen, um während der Pandemie an fast keinem Tag die Frauenschutzhäuser schließen zu müssen, und wenn, dann nur für kurze Zeit.

Ich möchte Sie noch einmal herzlich daran erinnern: Sie alle haben unserem Antrag damals nicht zugestimmt, dass die Mitarbeiterinnen, die das realisiert haben, eine Corona-Sonderzahlung bekommen. Ich finde nach wie vor, das war eine Fehlentscheidung.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn diese Frauen sind im wahrsten Sinne des Wortes für einige Frauen in Sachsen-Anhalt der letzte Rettungsanker. Es sind eben nicht wenige Frauen und Kinder, die diesen letzten Rettungsanker nutzen bzw. nutzen müssen.

Aktuelle Zahlen: In 2022 haben 493 schutzsuchende Frauen und 609 Kinder - es sind jährlich immer mehr Kinder, die ihre Mütter begleiten - in Frauenschutzhäusern Zuflucht gesucht. Die Zahl steigt seit Jahren stetig an. Auch die Verweildauern in den Frauenschutzhäusern - das hat auch etwas mit der Mietsituation und mit der finanziellen Situation zu tun - steigen ebenfalls an.

Sie, sehr geehrte Koalitionäre, haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben, dass die Vorgaben der Istanbul-Konvention auf der Basis eines ressortübergreifenden Aktionsplanes fortgeschrieben und umgesetzt werden sollen. Ich finde, dabei gibt es auch keinen Ermessensspielraum oder Vorbehalt in dieser Vereinbarung - ich kann davon nichts lesen -, auch kein finanzieller; das ist gut so. Daher fordert meine Fraktion im Namen der vielen von häuslicher Gewalt Betroffenen eine tatsächliche Umsetzung Ihres Vorhabens aus der Koalitionsvereinbarung. Ich finde, zwei Jahre nach dem Zustandekommen dieser Koalition ist es höchste Zeit, dies zu erledigen.

Der Beginn der Haushaltsberatungen erscheint uns für unseren Antrag als ein sinnvoller Auftakt, um Ihr Vorhaben mit Leben zeitnah zu erfüllen. Selbstverständlich unterbreiten wir weitere Verbesserungsvorschläge; denn die Zeit schreibt das Leben schnell neu bzw. zeigt auch neue Bedarfe auf.

Sie erinnern sich: Im Rahmen der Debatte vor der Sommerpause um die dringend notwendigen Hauswirtschafterinnen in den Frauenschutzhäusern haben insbesondere die Redner von der CDU und der FDP zu unserem Änderungsantrag für mehr Personal für die Interventionsstellen in unserem Land deutlich gemacht, dass sie dem offen gegenüberstehen; das ist auch gut so. Daher haben wir diese Forderung heute noch einmal in unseren Antrag aufgenommen; denn manchmal ist es ganz gut, dass ein Thema nicht Gefahr läuft, in Vergessenheit zu geraten.

Auch nach der Sommerpause ist leider nicht davon auszugehen, dass die Zahlen in den Beratungsstellen und in den Interventionsstellen rückläufig sind. Die Kolleginnen aus Stendal, Dessau und Magdeburg melden ebenso wie die aus Halle, dass es mehr Beratungsanfragen gibt.

Ich habe es auch damals schon gesagt: Der derzeitige Umstand, dass die betroffenen Frauen in Mansfeld-Südharz, im Burgenlandkreis und im Saalekreis durch die Mitarbeiterinnen der Interventionsstelle Halle nur telefonisch kontaktiert werden können, ist völlig inakzeptabel. Das kann eine Zwischenlösung in der Pandemiezeit sein, aber wir befinden uns nicht mehr in der Pandemie. Wir brauchen tatsächlich ein Hilfenetz, das vor Ort für die Frauen da ist und sie unterstützt.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Mir ist noch ein anderer Punkt wichtig. Sie kennen das Stadt-Land-Gefälle in Sachsen-Anhalt. Wir sind überwiegend ein Flächenland. Wir haben die Herausforderung mit dem ÖPNV in den ländlichen Räumen zu bewältigen. Wir haben nicht in allen Landkreisen nahe Beratungsstellen und Frauenhäuser. Aber ein weitaus größeres Problem sehe ich nach wie vor in den Eigenanteilen, die die Frauen, die Schutz suchen, im Frauenhaus zahlen müssen.

Ich habe es gegenüber dem „Deutschlandfunk“ gesagt: Frau Eisenreich und ich haben kürzlich das Frauenschutzhaus Weißenfels besucht, und ich war schockiert zu hören, dass dort im letzten Jahr zwei Frauen wegen des zu erbringenden Eigenanteils wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt sind. Ich dachte, das ist ein Einzelfall. Aber gestern war ich mit Frau Lüddemann im Frauenschutzhaus Magdeburg und stellte fest, dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es häufiger vorkommt. Es ist inzwischen sogar so, dass Kommunen so klamm sind, z. B. Magdeburg, dass das Frauenschutzhaus Magdeburg dazu gezwungen ist, zukünftig für jede Person, also egal ob Frau oder Kind, einen Eigenanteil von 15 € pro Tag zu erheben. Das ist völlig inakzeptabel.

Sie haben auch eine entsprechende Liste; das kann vom Ausschuss abgefragt werden. Sie können gern sagen, wie viele aufgrund dessen dem Frauenschutzhaus den Rücken kehren und dort nicht Schutz suchen.

Ich finde, wir müssen dem Brandenburger Modell folgen. Wir müssen Kostenfreiheit realisieren, und wir haben die Chance, das jetzt im Haushalt zu verankern.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wir haben noch ein paar weitere Punkte im Antrag stehen. Meine Redezeit ist aber abgelaufen und ich beachte das natürlich respektvoll. Ich hoffe, dass wir im Ausschuss darüber diskutieren können und dass wir den Haushalt nutzen und das eine oder andere im Interesse der von häuslicher Gewalt Betroffenen noch geradebiegen können. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der LINKEN)