Dr. Katja Pähle (SPD): 

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Hohes Haus! Bevor ich auf die bildungspolitischen Fragen eingehe, um die es in dieser Aktuellen Debatte geht, möchte ich auf die Begründung zu dem Antrag der LINKEN eingehen, weil sie eines der größten Probleme offenlegt, die wir in den gegenwärtigen politischen Debatten über das Thema Arbeitskräftemangel haben. Sie schreiben, dass zur Behebung des Arbeitskräftemangels meist nur nach Wegen des geringsten Aufwandes gesucht werde. Dann kommen zwei Beispiele: erstens die Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit - in der Kritik daran sind wir uns völlig einig - und zweitens die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland. Wie bitte? - Sie werten Zuwanderung als Weg des geringsten Aufwandes. Tatsächlich? Das ist auf sehr vielen Ebenen falsch. 

Erstens negiert das die großen objektiven Herausforderungen und Bedarfe, die mit Zuwanderung verbunden sind. Ich nenne nur Stichworte wie Sprachkenntnisse, Anerkennung von Abschlüssen, Familiennachzug, Eingliederung von Kindern in unser Schulsystem und an manchen Orten auch die Lage auf dem Wohnungsmarkt. 

Wenn Sie diese großen Fragestellungen mal eben so abtun, dann negieren Sie sowohl die große Integrationsleistung, die die Zugewanderten selbst erbringen, als auch die Arbeit all derer, die sich für eine funktionierende Aufnahme in unserem Land engagieren, vom ehrenamtlichen Engagement über Lehrkräfte und Arbeitskollegen und -kolleginnen bis hin zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Kommunen und Behörden. 

Zweitens. Sie können doch all die Probleme in der Aufnahmegesellschaft nicht leugnen, die von latenten Vorhaltungen bis hin zu offenem Rassismus reichen und die Zuwanderung für die Betroffenen oft zu einem Spießrutenlauf machen. Von wegen geringer Aufwand!

Drittens - und das ist das Problematischste daran. Wenn Sie die Zuwanderung als Lösungsansatz für den Arbeitskräftemangel geringschätzen und demgegenüber eine Bildungswende zur zentralen Herausforderung stilisieren, dann erinnert das ganz schnell an einen ideologischen Fehlschluss. Die Antwort in unserer jetzigen Situation: „Wenn wir alles für unsere Leute tun, wird es nicht so schlimm mit dem Arbeitskräftemangel“ ist falsch. Ich weiß, dass das von unterschiedlichen Seiten immer wieder kommt, aber es ist falsch.

Vor einiger Zeit hatte ich den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in Halle zu Gast. 

Es gibt wohl kaum jemanden, der sich in Deutschland mit dem Thema Arbeitskräftemangel und den damit verbundenen Risiken für unsere Wirtschaft politisch und fachlich so umfassend auseinandersetzt wie er. 

(Ulrich Siegmund, AfD: Was? - Weitere Zurufe von der AfD)

Wenn Hubertus Heil über die Dimension des Problems spricht - bis 2035 ungefähr 7 Millionen Arbeitskräfte  , dann macht er deutlich, dass wir   k e i n   Instrument gegen Arbeitskräftemangel außer Acht lassen können und keines geringschätzen dürfen. Dazu gehört die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt ebenso 

(Zustimmung von Katrin Gensecke, SPD) 

wie die Motivierung von Langzeitarbeitslosen und die Erhöhung der Frauenerwerbsquote. Nein, den Weg des geringsten Aufwandes dürfen wir tatsächlich nicht gehen, sondern wir müssen all diese Aufgaben anpacken und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen.

Es gibt noch so manche in Politik und Wirtschaft, die führen das Wort der Zuwanderung zwar auf der Zunge, aber sie verbinden es mit der Vorstellung, man könne sich Fachkräfte quasi nach Wünschen herauspicken: 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Doch!) 

hoch qualifiziert, ohne Familienanhang, ohne verdächtige religiöse Bekenntnisse und voller Bewunderung für die deutsche Lebensart. 

(Zustimmung bei der SPD - Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Das ist kein Problem! Machen andere doch auch! - Oliver Kirchner, AfD: Was sollten die hier? Die kommen doch gar nicht her!) 

Dieses merkwürdige Wunschkonzert hat mit der Realität nichts zu tun. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Ach so?) 

Deutschland konkurriert auf einem globalen Arbeitskräftemarkt mit Ländern, in denen der Sommer länger und die Sprache leichter zu erlernen ist. 

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Das ist doch gar nicht das Problem!) 

Das kann man mit Rosinenpickerei nicht beantworten. Ich habe neulich bei einem Begegnungstreffen bei der AWO

(Ulrich Siegmund, AfD: Ah!) 

eine junge Frau kennengelernt, die in Magdeburg Informatik studiert und die für ihr Studium keinen Praktikumsplatz findet - nicht weil es in Magdeburg an Software- oder IT-Firmen mangelt, sondern weil sie ein Kopftuch trägt.

(Markus Kurze, CDU: Oh! Eh! - Zurufe von der AfD) 

Mit einer solchen Haltung aber stellen Arbeitgeber sich auf dem Arbeitskräftemarkt selbst ins Abseits. 

(Oliver Kirchner, AfD: Das ist doch Quatsch!)

Meine Damen und Herren! Schauen wir uns jetzt näher an, worauf DIE LINKE in ihrem Antrag abzielt, und werfen wir einen Blick auf die einschlägigen Fakten. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist für Bewerberinnen und Bewerber weiterhin günstig. Der wie immer sehr verdienstvolle Ausbildungsreport der DGB-Jugend zeigt für 2022, dass die Zahl der Ausbildungsangebote in Sachsen-Anhalt mit knapp 13 000 Plätzen sogar knapp über dem Angebot von 2019, also vor der Pandemie, lag. 

Die sogenannte Einmündungsquote, also der Anteil derjenigen, die nach einer Meldung bei der Bundesagentur tatsächlich eine Berufsausbildung beginnen, betrug im Jahr 2021 in Sachsen-Anhalt 60,5 % bei einem bundesweiten Durchschnitt von 48,9 %. 

Der Jahresmonitor Berufsbildung, aus dem diese Angabe stammt, weist aus, dass sich die Perspektiven derjenigen, die nicht den gewünschten Ausbildungsplatz erreicht haben, weit auffächern. Das reicht von denen, die sich dann doch zu einem weiteren Schulbesuch und für einen höheren Schulabschluss entscheiden, bis zu unmittelbarer Aufnahme eines Jobs oder eben zum Nachvermitteln durch die Agentur auf einen anderen Ausbildungsplatz. Diejenigen, die am Ende ganz ohne eine Ausbildung dastehen, waren 298 Personen, 3,2 %. Der ostdeutsche Durchschnitt liegt bei 8,5 %, der bundesweite bei 5,7 %. Kann man bei diesen Zahlen wirklich von tausendfacher Erfolgslosigkeit sprechen, wie es die LINKE tut? - Ich glaube, nicht. 

Was die Zahlen aber deutlich machen, ist die Notwendigkeit einer zielgenauen Berufsorientierung. Beim DGB-Ausbildungsreport gaben 16 % der Befragten an, dass sie schon einmal den Ausbildungsplatz gewechselt haben. Damit war bei 88 % der Fälle auch ein Wechsel des Ausbildungsberufes verbunden. 

Nun ist ein Nachsteuern beim Berufswunsch grundsätzlich keine Katastrophe. Aber die Zahlen zeigen dennoch, wie wichtig die Qualität der Berufsorientierung im Vorfeld ist, um den jungen Menschen ein realistisches Bild von ihrem späteren Berufsleben zu vermitteln. Ich werde deshalb nicht müde zu betonen, dass das erfolgreiche Landesprogramm zur Berufsorientierung, BRAFO, überall dorthin gehört, wo sich junge Menschen auf das Berufsleben vorbereiten, also auch an die Gymnasien, 

(Zustimmung von Jörg Bernstein, FDP)

und zwar gerade an die Gymnasien, weil dort erstens im Elternhaus eine Kenntnis über duale Ausbildungsberufe meistens nicht vorhanden ist und weil zweitens auch das Studium nur die nächste Schule ist, die auf einen Beruf vorbereitet. 

Was uns bei all den positiven Zahlen - ich schätze sie positiv ein - allerdings weiterhin umtreiben muss, ist, dass der Anteil der jungen Menschen ohne Schulabschluss im Jahr 2021 in Sachsen-Anhalt bei 9,6 % lag. Das sind Erhebungen der Bertelsmann-Stiftung. Das ist im Ländervergleich der zweitschlechteste Wert. Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 6,2 %. 

Mit fehlendem Schulerfolg aber wird die Grundlage für dauerhaft fehlende Teilhabechancen gelegt. Deshalb bleiben wichtige Ziele für die Weiterentwicklung unseres Schulsystems auf der Tagesordnung. Wir müssen große Aufmerksamkeit auf eine gute Schulbildung leben, auch in den Sekundarschulen. Die Schulform darf beim Lehrkräfteeinsatz nicht hinten runterfallen. Innerhalb der Sekundarschule darf auch der Bildungsgang zum Hauptschulabschluss nicht zur schulischen Resterampe werden. 

Stichwort Inklusion. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass alle Kinder, die eine reelle Chance auf einen Schulabschluss in der Regelschule haben, diese Chance auch bekommen und individuelle Benachteiligungen ausgeglichen werden können.

(Zustimmung von Katrin Gensecke, SPD) 

Bei denen, für die die Förderschule die bessere Lösung ist, darf es nicht der automatische Weg in eine Behindertenwerkstatt oder in die Abhängigkeit von Transferleistungen sein.

(Zustimmung bei der SPD und bei der FDP)

Das Potenzial für ein selbstbestimmtes Leben und für den Arbeitsmarkt, das in diesen Kindern steckt, muss gehoben werden. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank, Frau Dr. Pähle. Es gibt eine Kurzintervention von Herrn Lippmann. Und Frau Dr. Richter-Airijoki hat sich gemeldet, aber das ist aus der eigenen Fraktion. 

(Tobias Rausch, AfD: Das geht nicht!)

Das ist immer so eine Schwierigkeit. Und außerdem haben Sie sich eigentlich erst am Ende der Rede gemeldet. 

(Tobias Rausch, AfD: Das ist laut Geschäftsordnung gar nichtzulässig!) 

Erst ist jetzt Herr Lippmann an der Reihe.


Thomas Lippmann (DIE LINKE): 

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Dr. Pähle, ich will darauf hinweisen, dass es sich bei Ihren Ausführungen zu Beginn Ihrer Rede, in denen Sie sich auf einen Teil der Begründung bezogen haben - es betraf die Zuwanderung; das haben Sie auch relativ ausführlich gemacht  , erkennbar um eine Fehlinterpretation dessen handelt, was wir aufgeschrieben haben. Denn dass hier ausdrücklich die Rosinenpicker gemeint sind, macht der Klammereinschub „möglichst qualifizierten“ deutlich, also nicht die allgemeine Zuwanderung in dem Kontext, wo man es sich leicht macht. Dass es diese gibt, haben Sie selbst angesprochen, und nichts anderes war gemeint. 

In meiner Rede habe ich auch sprachlich einen entsprechenden Kontext dazu hergestellt, nämlich dass es nicht dazu führen darf, dass man sich um die eben nicht mehr kümmert - das ist ja ein ganz langer Prozess  , weil man glaubt, woanders etwas zu finden. Ich nenne die Greencard-Diskussion und was wir alles hatten. Ich habe also nicht allgemein über die Zuordnungsfrage gesprochen. Ich habe selbst darauf hingewiesen, dass die demografische Entwicklung natürlich so ist, dass das, auch wenn wir alle von uns gewinnen, nicht reichen wird. Das weiß ich selbst. 

(Frank Otto Lizureck, AfD: Hallo? Was ist mit der Zeit?)

Es geht vielmehr um die Rosinenpickerei und die Entlastung, sich nicht mehr um die schwierigen Fälle zu kümmern, die wir selber haben. 

(Frank Otto Lizureck, AfD: Also, ehrlich!) 

Das war der Kontext und so ist die Begründung auch geschrieben, mindestens für diesen Klammereinschub. 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Frau Dr. Pähle. 


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Herr Lippmann, ich danke Ihnen für Ihre Erklärung, aber ein bisschen reden wir aneinander vorbei. Wenn wir uns einig sind, dass es ohne Zuwanderung nicht gehen wird, weil wir einfach durch den demografischen Wandel gar nicht mehr so viele helfende Hände und kluge Köpfe haben, die hier aufwachsen, ist es natürlich eine Selbstverständlichkeit, dass wir alles tun, damit junge Menschen und im weiteren Verlauf auch ältere Menschen am Arbeitsmarkt und an all den Dingen, die wir als Teilhabe bezeichnen, beteiligt werden, damit diese Gesellschaft vorankommt und jeder sein Potenzial umsetzen kann. 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Vielen Dank. 


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Aber in Ihrer 


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding: 

Ach, Entschuldigung.


Dr. Katja Pähle (SPD): 

Begründung steht, dass in dieser Situation, die Sie selbst als ökonomische Talfahrt bezeichnen, zwei Wege des geringsten Aufwandes gesucht werden, einerseits die Ausnutzung von Arbeitskraftpotenzial und andererseits die Zuwanderung 

(Thomas Lippmann, DIE LINKE: Aber die haben doch einen Sinn, die Klammern!) 

- ja   von möglichst qualifizierten Arbeitskräften. Aber auch die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften ist kein Weg des geringsten Widerstandes. Das ist aufwendig. Das braucht Integrationsleistung, auch bei hoch qualifizierten Menschen, die zu uns kommen. Das ist, glaube ich, etwas, das viele wirklich verkennen: Auch die Zuwanderung von hoch qualifizierten Menschen braucht Integrationsleistungen des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft. Das wird nur mit großer Kraftanstrengung gehen. Diesbezüglich sind wir in der Bewertung auseinander.