Eva Feußner (Ministerin für Bildung):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, dass ich heute zu diesem spannenden, weil ressort- und politikübergreifenden Thema sprechen darf. Es wurde zwar den Bildungspolitikern zugewiesen, ein alleiniger Fokus auf die Schule wird jedoch nicht ausreichend sein; denn bei dem Thema „Wir brauchen jede und jeden!“ reden wir über den Fachkräftemangel und die Schule ist nur ein Teil bei der Betrachtung dieses Mangels. 

Herr Lippmann, der Blick, den Sie immer in die Vergangenheit werfen, um hervorzuheben, was vor 20 Jahren falsch gemacht wurde, ist richtig, bringt uns aber keinen Schritt weiter. 

(Zustimmung bei der CDU)

Wir müssen nach vorn schauen und in den Blick nehmen, welche Maßnahmen wir ergreifen. Dann sagen Sie: Ihr Konservatismus bringt nichts; es ist nicht richtig, an allem festzuhalten; Sie machen nichts. Wir haben die Vorgriffsstunde eingeführt. Wer unterstützt die Klagen, die GEW, damit sie wieder zurückgenommen wird? Das ist nichts Konservatives, sondern etwas Innovatives, um unseren Schülerinnen und Schülern mehr Unterricht geben zu können,

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

und dann sind Sie plötzlich dagegen. Das sind doch Dinge, die wir auf den Weg gebracht haben, von denen Sie sagen, dieses geht nicht und jenes geht nicht. Ich höre von Ihnen keine Vorschläge, wie man es wirklich machen kann. Mit Abminderungsstunden für Lehrkräfte schaffen wir das nicht, was Sie immer wieder betonen. 

(Hendrik Lange, DIE LINKE: Da haben Sie aber nicht hingehört! - Thomas Lippmann, DIE LINKE: Wir haben doch einen Masterplan aufgeschrieben! Wir haben doch darüber diskutiert!)

- Das von dem Masterplan haben wir alles umgesetzt, Herr Lippmann. Das wissen Sie besser als ich. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Demografie Deutschlands, insbesondere Ostdeutschlands und Sachsen-Anhalts, ist, glaube ich, der Ausgangspunkt unserer Debatte. Der massive Einbruch der Geburtenzahlen nach der Wende, die langsame Stabilisierung der Geburtenzahlen und jetzt der absehbare abermalige Einbruch in den 30er-Jahren dieses Jahrhunderts sind ein großes Problem für unsere Wirtschaft und generell für die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft. Somit hat die Feststellung „Wir brauchen jede und jeden!“ gesamtgesellschaftlich durchaus einen wahren Kern. 

Erlauben Sie mir bitte zum Einstieg eine kurze ökonomische Betrachtung, bevor ich dezidiert auf das Thema Bildung als Element der Bekämpfung des Fachkräftemangels eingehe. Meiner Meinung nach organisieren wir uns in Deutschland den Fachkräftemangel selbst.

(Zuruf von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen illustrieren: Deutschland leistet sich ein Einkommensteuersystem, das die produktivsten Menschen von zusätzlicher Arbeit abhält, wenn ein guter Durchschnittsverdiener schon in den Spitzensteuersatz fällt. Deutschland hält - das ist auch in meiner Partei noch immer eine heilige Kuh - systematisch Frauen von zusätzlicher Arbeit ab, indem es Anreize über das Ehegattensplitting setzt. Außerdem leistet sich Deutschland Sozialtransfers. Beispielhaft ist die aktuelle Erhöhung des Bürgergeldes

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)

oder die Kindergrundsicherung zu nennen, die die Arbeit im Niedriglohnbereich zunehmend lächerlich, ja, sogar unattraktiv machen. Auch die Wiedereinführung der Rente mit 63 und Frühverrentungsprogramme, die besonders produktive Facharbeiter frühzeitig in den Ruhestand getrieben haben, haben das Problem in den letzten Jahren verschärft. 

Diese und viele weitere Beispiele führen mich zu dem Schluss, dass ein wichtiger Teil der Wahrheit dieser Debatte in fehlenden ökonomischen Anreizen liegt. Arbeit lohnt sich für viele Menschen kaum noch. Das sind Fragen, die auf der Bundesebene zu klären sind. Leider sind diese wichtigen Stellschrauben im Steuer-, Renten-, Sozial- und Arbeitsrecht derzeit nicht im Fokus dieser Bundesregierung. 

(Beifall bei der CDU - Guido Kosmehl, FDP: Das waren Sie doch in den letzten 16 Jahren!)

Nun möchte ich mich dem Kern des Antrags widmen, der auf die hohe Anzahl an erfolglosen Karrieren in der Schule und in der beruflichen Bildung abzielt. Zirka 10 % eines Schuljahrganges erreichen keinen anerkannten Schulabschluss. Aber auch in der Berufsausbildung scheitern zu viele junge Menschen. Nicht allen Schulabbrechern gelingt noch der Zugang zu einer qualifizierten Berufsausbildung. Viele versuchen, im Übergangssystem, z. B. im BVJ, Schulabschlüsse nachzuholen. 

Schulabbrecher arbeiten, wenn überhaupt, fortwährend in riskanten Beschäftigungsverhältnissen. Die Gefahr, dass Sozialtransfers zur Lebensperspektive von Schülerinnen und Schülern ohne Abschluss werden, ist groß. Dies ist ein tatsächlich trauriger Umstand. Ich glaube, das sehen wir alle hier so. 

Bei der Interpretation der Zahlen, insbesondere der Ländervergleiche, die uns jedes Jahr präsentiert werden, und der Gründe für dieses vermeintliche Scheitern gehen die Haltungen jedoch ziemlich weit auseinander. Zur Interpretation der Zahlen verweise ich auf einen spannenden Artikel vom 26. August von Heike Schmoll in der „FAZ“. Die Vergleichbarkeit zwischen den Ländern in der Statistik des Bundesamtes und der KMK wird von der Autorin stark angezweifelt. Das tue ich mittlerweile auch. Relativ deutlich und fassbar wird es, wenn man die Ergebnisse unserer Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Vergleichstests - egal welcher Kompetenzbereich - neben die formale Statistik Schüler ohne Schulabschluss legt.

Das heißt, in unseren Schulen erreichen unsere Schülerinnen und Schüler noch immer relativ gute Kompetenzniveaus, aber dies bildet sich leider nicht in einer zufriedenstellenden Abschlussquote ab. Ein plastisches Beispiel führt Heike Schmoll mit dem Land Berlin an, das die Beschulung im Fördersystem mit der Berufsbildungsreife gleichsetzt. Dies tun wir in Sachsen-Anhalt z. B. nicht. Abgangszeugnisse von Förderschulen sind bei uns dem Hauptschulabschluss eben nicht gleichgesetzt. Andere Länder wiederum haben viel niedrigere Anforderungen an das Erreichen des Hauptschulabschlusses als wir in Sachsen-Anhalt. 

Letztlich haben wir es mit einem verwirrenden Befund zu tun. In allen ostdeutschen Ländern ist der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss relativ hoch. Der Westen ist dagegen spitze beim Verfehlen der Mindeststandards beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Es gilt, diesen Fakt zu hinterfragen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. 

(Zustimmung bei der FDP)

Lassen Sie mich noch kurz auf die Risikogruppe in Bezug auf den Schulabbruch eingehen. Schulabbrecher sind meist männlich, stammen häufig aus Elternhäusern in Armut und langer Arbeitslosigkeit, oft aus Familien mit Migrationsgeschichte oder einem Milieu, das der Schule und dem Schulbesuch keine Bedeutung beimisst. Meist sind das Schüler, die über lange Zeit schwänzen und schließlich ganz den Anschluss verlieren und im Schulabsentismus landen. 

Die Forschung besagt, es ist meist kein alleiniger Faktor zu identifizieren, sondern wir haben es mit komplexen Gemengelagen und sich gegenseitig bestärkenden Risikofaktoren zu tun. Neben den Faktoren, die den einzelnen Jugendlichen betreffen, gibt es auch strukturelle Faktoren, die relevant sind, z. B. die Art des Unterrichts - theorielastig oder praxisbezogen - oder die Schulkultur an der einzelnen Schule. Wie wird z. B. mit Misserfolg oder Widerspenstigkeit von Schülern umgegangen? Es gibt auch gruppenspezifische Faktoren, die zu Schulabsentismus führen, z. B. Mobbing von Mitschülern und natürlich - darauf möchte DIE LINKE einzig und allein hinaus - das unterschiedliche Vorhandensein von Unterstützungssystemen wie Schulsozialarbeit oder Bezugslehrern in Zeiten des Lehrermangels.

Zur besseren Analyse der Problemlage in unserem Bundesland haben wir in den zurückliegenden Jahren zwei aufeinander aufbauende qualitative Studien der Universität Magdeburg in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse der Studien sind in unseren Maßnahmenplan eingeflossen. 

Jetzt genug von der Analyse. Wo wollen wir ansetzen? - Das Ministerium für Bildung hat einen umfangreichen Maßnahmenplan erarbeitet, der an folgenden Punkten ansetzen will - da meine Redezeit bald vorbei ist, werde ich das nur stichpunktartig nennen; Sie können mir gern Fragen dazu stellen  : 

Erstens. Die Studien zeigen, dass eine frühzeitige Verbindung von Schule und Berufswelt sowie ein praxisorientierter Unterricht wichtige Lösungswege sind. 

Zweitens. Wir wollen früher ansetzen, um Schulabbruch in späteren Jahren der Schullaufbahnkarriere zu vermeiden. 

Drittens. Die Anforderungen an den Hauptschulabschluss werden überprüft und an den deutschen Maßstab angepasst. 

Viertens. Wir werden die Abschlussquote von Förderschülern erhöhen. Das heißt nicht, dass wir sozusagen einen Förderschulabschluss vergeben, sondern wir wollen sehen, dass wir die Förderschule, insbesondere die Förderschule Lernen, zunehmend qualitativ aufwerten, damit dort ein Hauptschulabschluss vergeben werden kann. 

Fünftens. Wir werden die Unterstützungssysteme für unsere Schülerinnen und Schüler mit entsprechenden Schwierigkeiten ausbauen. 

Sechstens. Wir stärken die schulische Ausbildung im Rahmen dualer Ausbildungsgänge durch permanente Verbesserung der Angebote unserer berufsbildenden Schulen. 

Abgesehen von dieser Liste an Maßnahmen - teilweise schon umgesetzt, teilweise geplant - möchte ich an alle beteiligten Akteure und Kooperationspartner unserer Schulen appellieren, das Thema gebrochene Bildungskarrieren in ihrer Priorität ganz nach oben zu nehmen. Dort nehme ich insbesondere die Eltern, die Wirtschaft, die Berufsberatung und Arbeitsmarktbehörden, nicht zu vergessen, die Kinder- und Jugendhilfe und die Jugendlichen selbst in die Pflicht. 

Denn - das möchte ich abschließend sagen  : Nie waren die theoretischen Chancen auf ein erfolgreiches Berufsleben und damit auf gesellschaftliche Teilhabe besser als jetzt. Die Möglichkeiten für unsere Kinder sind fast unendlich. Vielleicht führt das bei vielen Jugendlichen manchmal zu einer gewissen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. 

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir auf diesem Wege so wenig Kinder und Jugendliche wie möglich verlieren. Lassen Sie uns die junge Generation nach bestem Wissen und Gewissen fördern, aber an den richtigen Stellen auch die Leistungsbereitschaft einfordern. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)