Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es tut mir leid, ich kann eine Rede zu Krankenhäusern in Not im Moment nicht beginnen, ohne über Ballenstedt zu reden. Die Ministerin tat das an dieser Stelle auch schon.

Die Lungenklinik in Ballenstedt, hoch spezialisiert und anerkannt, nicht nur in der Pandemie unverzichtbarer Bestandteil der Versorgung der Bevölkerung, große Arbeitgeberin vor Ort und auch Identifikationsanker in der Stadt, ist eine solche Klinik in Not, weil mit der Spezialisierung die Möglichkeit fehlt, über eine Querfinanzierung durch lukrativere Behandlungen Defizite auszugleichen, weil - wie überall - Vergütungen bei steigenden Kosten nicht einfach angepasst werden können und weil das Personal immer knapper wird.

Nicht alles davon würde sich mit mehr Geld lösen lassen. Es wird auch Strukturveränderungen brauchen. Aber ob sich gerade eine so stark spezialisierte Fachklinik einfach so zerteilen und örtlich verlegen lässt, ob die anerkannte Fachlichkeit bestehen kann, wenn die Struktur zerschlagen wird, daran haben nicht nur meine Kolleginnen vor Ort berechtigte Zweifel.

Für die zweifelsohne in unserem Gesundheitswesen nötige Um- und Neustrukturierung muss nicht nur in Ballenstedt gelten: Fachliche und Versorgungsüberlegungen müssen unbedingt Vorrang vor Marktmechanismen haben. Wir haben eine Bundesregierung, die damit angetreten ist, eine Fortschrittskoalition zu sein. Nach 16 bleiernen Jahren war und ist das dringend nötig, gerade im Bereich der Gesundheitsversorgung und - noch einmal - besonders dringend im Bereich der Krankenhäuser. Nach 16 Jahren des Herumdokterns und der reinen Symptombekämpfung - meistens waren es CDU-Minister - haben wir jetzt einen Gesundheitsminister, der das Problem klar benennt und endlich die richtige Diagnose stellt,

(Zustimmung)

die da lautet: Die vormaligen Bundesregierungen haben es mit der Ökonomisierung des Gesundheitssystems zu weit getrieben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Marktmechanismen sind im Bereich der Gesundheit in vielen Fällen dysfunktional. Gesundheit ist keine Ware. Krankenhäuser sind keine reinen Wirtschaftsunternehmen. Die Fallpauschalen waren bei ihrer Einführung ein sinnvoll erscheinender Gegenentwurf zu einer Krankenhausfinanzierung, die mit kostenintensiven Fehlanreizen für lange Krankenhausaufenthalte gesorgt hat. Aber schon zeitig hat sich gezeigt: Sie haben nur andere Fehlanreize geschaffen, und zwar mindestens ebenso kostenintensiv, aber viel schwieriger für die Patientinnen und für die Kliniken.

Wenn man ein Finanzierungssystem strickt, dass über Fallpauschalen funktioniert, also die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit einem jeweiligen Geldwert hinterlegt, dann löst man eben auch problematische Dynamiken aus. Krankenhäuser fokussieren sich dann auf besonders lukrative Behandlungsfelder. Das kritisieren die Kassen zu Recht, Stichwort: angebotsinduzierte Nachfrage. Das heißt, die Fallzahlen ergeben sich dann eben nicht mehr aus einer objektiv quantitativen Menge an entsprechenden Krankheitsfällen, sondern je häufiger eine Leistung angeboten wird, desto häufiger wird sie dann auch geleistet. Das kann man - wie in einem Lehrbuch; das ist schon oft beschrieben worden - beobachten z. B. bei künstlichen Hüftgelenken, Rücken-Operationen, MRT-Untersuchungen usw.

Man setzt via DRG also Fehlanreize für eine überflüssige oder zumindest nicht hundertprozentig notwendige oder die nicht medizinisch sinnvollste Behandlung und errichtet damit einen Zielkonflikt zwischen ärztlicher Sicht und kaufmännischer Sicht. Wenn bspw. - um das einmal herunterzubrechen - eine natürliche Geburt weniger Geld einbringt als ein Kaiserschnitt, dann freut sich die kaufmännische Leitung eines Krankenhauses über die Zunahme der Zahl der Kaiserschnitte. Aus gesundheitlicher Sicht ist das aber eine problematische Entwicklung und wird im Übrigen letztlich auch teurer.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Gleichzeitig führt ein solches auf Fallzahlen fokussiertes System dazu, dass Krankenhäuser in dünn besiedelten Regionen mit geringen und jetzt oftmals auch sinkenden Fallzahlen zunehmend in eine finanzielle Schieflage geraten. Sie bekommen ihre Dienstleistungen dann oft nicht mehr häufig genug verkauft, um profitabel zu sein, um eine schwarze Null zu erwirtschaften. Man kann versuchen, das System punktuell zu heilen, über Sicherstellungszuschläge, wie es im Schnellschuss passiert, oder über eine Feindifferenzierung des DRG-Systems, aber letztlich ist all das Symptombekämpfung.

Der Anspruch der Bundesregierung und insbesondere der GRÜNEN-Fraktion in der Bundesregierung ist ein anderer. Es gilt die Ursache selbst abzuschaffen. Auf den kürzestmöglichen Nenner gebracht: weg von den Fallpauschalen, hin zur Finanzierung der Vorhaltekosten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dort, wo Krankenhäuser gebraucht werden, sollen sie die nötigen Mittel von vornherein bekommen, ohne diese über Abrechnungen einzelner erbrachter Fälle oder Leistungen zu erwirtschaften.

Die betriebswirtschaftliche Betrachtung eines Krankenhauses ändert sich damit fundamental und ähnelt dann eher der bei anderen öffentlichen Einrichtungen wie Kitas oder Museen und weniger, wie bisher, einem Autohaus oder einem Handyladen. Das ist völlig angemessen; denn Gesundheitsversorgung gehört zur Daseinsvorsorge.

Das verlangt der Politik auch im Land einiges ab. Bisher hat man quasi das DRG-System vorgegeben und hat es dem Krankenhausmarkt überlassen, sich passende Geschäftsmodelle zu überlegen. Die Krankenhausplanung der Länder hat im Grunde nie wirklich geplant, sondern vielmehr nur den Marktzugang geregelt.

Wenn jetzt also die Politik Vorhaltekosten finanziert, ist einiges mehr an Steuerung, Planung und damit auch Datenerhebung nötig. Über eine Bedarfsplanung muss man ermitteln, welche Angebote in welchem Umfang wo gebraucht werden, samt entsprechenden klaren Einteilungen von Krankenhaustypen. Deshalb ist das mit den Leveln systematisch gar nicht so verkehrt. Es sind Vorgaben zur personellen und technischen Ausstattung vorzunehmen; denn man braucht eine konkrete Grundlage, um die Vorhaltekosten beziffern zu können. Das ändert nicht nur die betriebswirtschaftliche Binnenperspektive der Krankenhäuser, sondern auch deren Verhältnis untereinander.

Kliniken sind dann keine konkurrierenden Marktakteure mehr, die um die knappe Ressource Patient streiten. Ihre Daseinsberechtigung ergibt sich dann nicht mehr über die möglichst häufige Abrechnung lukrativer DRG in Konkurrenz zueinander, sondern dort, wo sie sind, werden sie zur Absicherung der Gesundheitsversorgung gebraucht. Das ist das grundsätzliche Signal an Krankenhäuser, die via Vorhaltekosten finanziert werden. Wenn damit die Konkurrenz endet, dann kann Kooperation beginnen.

Damit sind wir bei den zentralen Empfehlungen des Gutachtens unseres Landes. Wir brauchen mehr Kooperation, mehr Planung, mehr Leistungskonzentration. Wir brauchen einen spezifischen Ausbau von Spezialleistungen. Diese Forderungen sind mit einem System der Finanzierung von Vorhaltekosten sehr, sehr gut übereinanderzubringen. Wenn mit der Optimierung von lukrativen DRG kein Geld mehr zu machen ist und dieses Geld dann für die Häuser nicht mehr gebraucht wird, um unlukrative DRG querzufinanzieren, dann können sich Krankenhäuser in einer Region viel leichter über sinnvolle Spezialisierungen und ergänzende Angebote verständigen als bisher. Das verspreche ich mir mit dem von Minister Lauterbach angestoßenen Reformprozess auf der Bundesebene. Deshalb bin ich nicht halb so negativ eingestellt wie manche hier im Haus.

Aber klar ist: Damit allein lösen wir nicht die Probleme der Absicherung der Versorgung in der Fläche. Abseits klassischer Krankenhäuser und klassischer Niederlassungen brauchen wir quasi einen intermediären Sektor und das ist neu. Das könnten die schon länger existierenden MVZ sein, gern auch in Trägerschaft von Kommunen. Das können Ansätze wie das Büsumer Modell sein - das habe ich mir kürzlich angeguckt, das kann ich allen Kolleginnen aus dem Gesundheitsbereich empfehlen. Es könnten regionale Gesundheitszentren sein, wie es die Salus in Havelberg umsetzen möchte, bis hin zu Rotationssprechstunden in von der Gemeinde bereitgestellten Praxisräumen, wohin dann verschiedene Fachärztinnen kommen, wie es z. B. in Ummendorf in der Börde bereits geschieht.

Für diese neuen Versorgungsformen brauchen wir Mut, in der Politik neue Wege zu gehen. Wir brauchen vor allem verlässliche Finanzierungswege. Diese Rahmenbedingungen sind auf der Bundesebene in Arbeit.

Neben neuen Strukturen brauchen wir aber auch neue Professionen. Jetzt kommt mein Lieblingsthema. Eine weitere Akademisierung der Gesundheitstherapie und der Pflegeberufe tut an dieser Stelle not, um die Versorgung der Bevölkerung auf fachlich breitere Schultern zu verteilen, mit der Arztzentrierung im deutschen Gesundheitssystem endlich Schluss zu machen und endlich multiprofessionell mit neuen Ansätzen neue Versorgung zu etablieren.

Das ist im Übrigen auch ein Mittel gegen den Fachkräftemangel. Mehr Kompetenzzuschreibung, mehr Eigenverantwortung, mehr Karrierewege in Gesundheitstherapie- und Pflegeberufen locken mehr junge Menschen in diese Berufsfelder. Da ist bundesweit gerade Einiges in Bewegung; nur wir in Sachsen-Anhalt sind gerade beim Thema Akademisierung noch nicht so richtig auf dem Weg.

Kurzfristig geht es darum zu verhindern, dass uns Krankenhäuser im Land verloren gehen, bevor die Systemumstellung auf der Bundesebene gelingt. Eine solche kalte Marktbereinigung gilt es dringend zu verhindern, zum einen indem das Land - dieser Appell richtet sich letztlich an alle Bundesländer - nicht aus falsch verstandenem Konkurrenzgerangel und politischem Kalkül die Reform verzögert, zum anderen indem das Land den Krankenhäusern finanziell zur Seite steht. Mit dem Corona-Sondervermögen ist schon einiges geleistet worden. Der nächste Haushalt wird sicherlich weitere Ansätze dafür vorweisen müssen, um die Krankenhausstandorte im Land zu sichern.

Kurzfristige Struktursicherung der Krankenhäuser, mittelfristiger Systemumbau in Sachen Finanzierung und ambulante Gesundheitszentren, langfristiger Gewinn für unsere Bevölkerung - das sind die Schritte, die zu gehen sind. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz, es gibt drei Fragen, und zwar von Herrn Kosmehl, dann von Frau Fr. Richter-Airijoki und dann von Herrn Silbersack. Möchten Sie diese zulassen?


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Ja.


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Ja. - Herr Kosmehl.


Guido Kosmehl (FDP):

Vielen Dank. - Frau Kollegin, Sie haben noch einmal auf die 16 Jahre hingewiesen, in denen nichts passiert ist. Sie kennen sich ja sehr gut aus in der Thematik. Vielleicht können Sie uns erhellen, wer denn das Fallpauschalensystem eingeführt hat? Unter welcher Ministerin bzw. Bundesregierung ist das denn gemacht worden? Ist es aus Ihrer Sicht nicht sinnvoller, nach vorn zu schauen und jetzt Lösungen zu finden, statt sich ständig vorzuhalten, wer wann irgendwie Verantwortung getragen hat, um sich damit besser hinzustellen?

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Sie bringen mich damit überhaupt nicht in Nöte zuzugeben, dass die Fallpauschalen unter Rot-Grün eingeführt worden sind. Ich habe auch erläutert, was dabei die Idee war.

(Zustimmung von Frank Bommersbach, CDU - Zuruf von der CDU: Aha!)

- Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort, aber sagen Sie gern „Aha“; von mir aus.

Die Idee war, ein falsches Anreizsystem zu ersetzen. Dann hat sich relativ zeitnah herausgestellt, dass das neue Anreizsystem mindestens ebenso falsch war. Dann kamen eben 16 Jahre,

(Daniel Roi, AfD: Kurzum, Sie haben keine Ahnung!)

in denen an diesem offensichtlich falschen Anreizsystem nicht viel geändert worden ist. Aber ja - wenn Sie das jetzt hören wollten und Sie können dazu gern wieder „Aha“ sagen  , die Einführung der DRG in dieser Form war ein Fehler.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Aha! - Daniel Roi, AfD: Aha! Deswegen nie wieder GRÜNE! - Christian Hecht, AfD, lacht)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Dr. Richter-Airijoki.


Dr. Heide Richter-Airijoki (SPD):

Vielen Dank. - Ich möchte noch eine spezifische Frage zu den Fallzahlen stellen. Ich und andere Abgeordnete, die das Thema Gesundheit im Fokus haben, waren bei einer Veranstaltung einer Krankenkasse, bei der wir Zahlen und Visualisierungen gesehen haben, wie sehr z. B. bei Entbindungen - das wurde als Beispiel genommen - die Komplikationsrate ansteigt, je weniger Entbindungen pro Jahr durchgeführt werden. Eine Zahl von 500 Entbindungen pro Jahr wurde als eine - in Anführungszeichen - magische Grenze genannt, ab der die Komplikationsraten deutlich steigen.

Natürlich ist einerseits die Wirtschaftlichkeit ein Grund, aber andererseits auch der Fachkräftemangel, dass man in manchen Bereichen konzentriert und zusammenführt. Es ist aber eben auch die Sicherheit der Versorgung ein Aspekt. Wie sehen Sie diesen Aspekt der Sicherheit im Verhältnis zum Aspekt der Wirtschaftlichkeit? - Bleiben wir einmal beim Thema Geburtshilfe.


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Frau Sziborra-Seidlitz.


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Sie haben ein sehr wichtiges Spannungsfeld beschrieben. Ich rede, was das betrifft, ungern über Wirtschaftlichkeit. Denn - das habe ich ausgeführt - ich finde, dass das nicht das leitende Kriterium sein darf. Die Versorgungssicherheit im Sinne von Sicherheit für die Patientinnen muss natürlich ein Kriterium sein. Wir haben ein Spannungsfeld mit einerseits einer fachlichen Beurteilung, dass bestimmte Angebote zentriert werden müssen, damit sie sicher angeboten werden können, damit die Versorgung tatsächlich für die Patientinnen und Patienten sicher ist. Auf der anderen Seite ist auch eine Versorgung in der Fläche erforderlich. Das Angebot muss nicht nur sicher sein, sondern es muss auch erreichbar sein.

Das ist ein Spannungsfeld, bei dem natürlich in einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt die Spannung besonders groß ist. Ich glaube, es gehört viel Ehrlichkeit dazu, das auch immer wieder beides so zu benennen. Mir ist die Wirtschaftlichkeit wichtig. Selbstverständlich muss es auch wirtschaftlich sein. Aber die Gewinnorientierung oder der Zwang, möglichst eine teurere Behandlung zu wählen, damit das Krankenhaus überleben kann, dürfen nicht im Fokus und nicht mehr im Vordergrund stehen.

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE)


Vizepräsidentin Anne-Marie Keding:

Herr Silbersack, bitte.


Andreas Silbersack (FDP):

Ja, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin, ich habe eine dreigeteilte Frage. Sie sagen, die Krankenhäuser sollten Einrichtungen der Daseinsvorsorge sein und nicht gewinnorientiert. Würden Sie sich also dafür aussprechen, dass die jeweiligen Tochter-MVZ der Krankenhäuser abgeschafft werden? Das ist die erste Frage.

Die zweite Frage ist, ob Sie dann diese Daseinsvorsorge im Bereich der niedergelassenen Ärzte vollumfänglich sehen.

Und, wenn Sie das so sehen, wären Sie dann drittens für die Abschaffung der KV?


Susan Sziborra-Seidlitz (GRÜNE):

Ja, ich glaube, dass auch die ambulante Gesundheitsversorgung ein Teil von Daseinsvorsorge sein muss. Ich glaube nicht, dass man deswegen die MVZ abschaffen sollte. Ich glaube, dass wir mit den Plänen der Bundesregierung, gerade für die intermediäre Versorgung, also das Sektorenübergreifende, was bislang nicht so möglich ist, ein neues Finanzierungsmodell bekommen, sodass auch MVZ nicht gewinnorientiert arbeiten müssen.

Nein, ich bin nicht für die Abschaffung der KV. Das Kassenärztesystem hat sich bewährt. Wir können ganz grundsätzlich über die Frage des Krankenkassensystems reden, das würde aber hier und heute den Rahmen sprengen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Guido Kosmehl, FDP: Einheitskasse!)