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Plenarsitzung

Unter Nachbarn: Täter und Mitläufertum

08. Okt. 2019

Der Holocaust wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitwirkung zahlloser Menschen. Warum beteiligten sich einige eifrig und aktiv an der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden und anderen Bevölkerungsgruppen? Warum schwiegen so viele und nahmen die Verbrechen hin? Warum entschlossen sich so wenige, den Opfern zu helfen oder Widerstand zu leisten? Das Verhalten der Menschen reichte von behutsamen Zeichen der Solidarität mit den Verfolgten bis hin zu aktiven Rettungsversuchen, von der Duldung judenfeindlicher Maßnahmen bis hin zur bereitwilligen Zusammenarbeit mit den Tätern und zur eigenen Täterschaft. Diesen Fragen geht eine Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum nach, die der Landtag von Sachsen-Anhalt im Oktober 2019 zeigt.

Historische Aufnahmen beleuchten die unterschiedlichen Verhaltensweisen, mit denen die Menschen auf die Nöte ihrer jüdischen Klassenkameraden, Kollegen, Nachbarn und Freunde reagierten. Sichtbar werden Motive und Zwänge, die die individuellen Entscheidungen und Handlungen während des Holocausts beeinflussten. Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch lobte die verantwortungsvolle Aufgabe der Ausstellungsmacher. „Wir dürfen nicht wegschauen, wir müssen uns diesen Greueltaten stellen“, erklärte die Landtagspräsidentin.

Begrich: „Es gab Handlungsoptionen“

Wer die Gegenwart begreifen wolle, der müsse sich der Vergangenheit widmen, erklärte Pascal Begrich, Geschäftsführer des Miteinander e. V., der die Ausstellung im Landtag präsentiert. Der Rechtsextremismus von heute orientiere sich am Nationalsozialismus der 1930er und 1940er Jahre. Dort, wo Menschen sich jedoch der historischen Auseinandersetzung stellten, hätten Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit weniger Anknüpfungspunkte. Mit seiner Bildungsarbeit verfolge der Miteinander e. V. das Ziel, das Interesse an Geschichte zu wecken und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu bewirken. Dabei würden Handlungsoptionen thematisiert: Wer konnte wie und wann handeln, wer handelte und wer nicht? Diese Fragen stelle auch die Ausstellung, so Begrich.

Schneiß: Sich gegen Antisemitismus auflehnen

Dr. Wolfgang Schneiß ist Ansprechpartner in der Staatskanzlei für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus. „Die Doppeltätigkeit birgt eine Funktion, auf die man eigentlich nicht stolz sein kann“, so Schneiß. Denn er sei zwar Ansprechpartner für jüdisches Leben im Land, „aber leider vor allem eben gegen Antisemitismus, den wir in unserem Land nicht haben wollen, den es aber immer wieder, immer noch oder wieder neu gibt“.

Heute seien der Nahostkonflikt und die Migration in die Überlegungen zum neuen Antisemitismus einzubeziehen, allerdings gebe es auch den „alten Antisemitismus“ immer noch. Es zeige sich auch in den sozialen Medien, dass auf uralte Vorurteilstrukturen zurückgegriffen werde. „Wenn wir heute etwas gegen Antisemitismus tun wollen, dann braucht es vielleicht diesen Ansprechpartner, aber vor allem Menschen, die dabei nicht mitmachen, sondern sich dagegen auflehnen“, so Schneiß. Das gelte im Übrigen für jede gruppenfeindliche Aktivität.

Eberhardt: Opfer-Narrative der 1950er Jahre

Acht Prozent der Deutschen geben heute an, dass ihre Familien zu den Verfolgtengruppen im Zweiten Weltkrieg gehört hätten. Über 28 Prozent der Familien hätten demnach Opfern geholfen, sagte Dr. Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die die Ausstellung förderte.

„Warum aber haben die allermeisten Deutschen nichts gegen die systematische Ermordung der Juden und anderer Bevölkerungsgruppen getan?“, fragte Eberhardt. Die Antwort: 95,4 Prozent der befragten Deutschen mutmaßten, dass wohl Angst vor Folgen/Repressalien durch die Nazis dafür verantwortlich gewesen wäre. Die Wenigstens hätten demnach etwas mit den Verbrechen der Nazis zu tun gehabt, rekapitulierte Eberhardt – „das glaubt zumindest die Mehrheit der Deutschen heute“ – und das selbst nach einer allumfassend aufarbeitenden Erinnerungskultur. Die Opfer-Narrative der 1950er Jahre würden wiederholt; Populismus, Rassismus und Antisemitismus erlebten dabei eine ungeahnte Renaissance in Deutschland. „Daher ist es wichtig, die Ausstellung an so vielen Orten wie möglich in Deutschland zu zeigen“, betonte Eberhardt, nach Halle (Saale) und Gardelegen nun also im Landtag in Magdeburg.

Die Menschen hätten sehr wohl mitbekommen, dass der Nachbar nicht mehr im Sportverein sein durfte, Kinder in eine andere Schule wechseln mussten, der Arzt nicht mehr praktizieren durfte, wie Familien ihre Koffer haben packen müssen und durch die Stadt getrieben worden seien. Es sei zu einer schrittweisen Verschiebung der Normalität gekommen, „und die meisten haben dabei mitgemacht“, so Eberhardt. Ausgrenzung und Gewalt seien im Nationalsozialismus Alltag gewesen und keine Besonderheit. Es habe sich um eine Gesellschaft der vielen gehandelt, die sich als höherwertig gehalten habe.

Die Zahl fremdenfeindlicher und antisemitischer Straftaten sei im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen. „Aber die Straftaten richten sich gegen Menschen, sie sind also menschenfeindlich und nicht allein fremdenfeindlich“, so Eberhardt.

Mueller: „Es gab Raum für eigene Entscheidungen“

Die Ausstellung stelle wichtige Fragen für unsere Zeit, lobte Dr. Klaus Mueller vom United States Holocaust Memorial Museum. Der Holocaust stelle einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschen dar. Das Deutschland der Weimarer Republik sei eine hochgebildete, fortschrittliche Nation gewesen, umso ungläubiger sehe man heute, wie die große Masse sich dennoch bereitwillig habe gleichschalten lassen.

Waren die Täter allein von Hass – dem jahrhundertealten Antisemitismus – getrieben?, fragte Mueller. Auch das scheine nicht der Fall gewesen zu sein. Menschen in Deutschland und ganz Europa schauten aus verschiedenen Gründen weg, beispielsweise wegen simpler Karrierechancen oder wegen Anerkennung. „Doch es gab Raum für eigene Entscheidungen.“ Die nationalsozialistische Führung habe wie alle Diktaturen auf Menschen wie Sie und ich und die Kollaboration gesetzt, auf Menschen, die sich mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufriedengegeben hätten, die auch grausames Verhalten rationalisierten. „Unsere Zeit bedarf einer neuen Achtsamkeit“, betonte Mueller, denn der Holocaust werde heute auch als politisch kalkulierte Grenzüberschreitung benutzt.

Die Ausstellung ist bis zum 30. Oktober 2019 im Landtag von Sachsen-Anhalt zu sehen. Besuche sind während der Öffnungszeiten von Montag bis Freitag zwischen 8 und 18 Uhr möglich. Der Eintritt ist frei.