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Plenarsitzung

„Ost und West“ aus heutiger Schülersicht

06. Nov. 2019

Zwei Bundesländer, zwei Schulen, zwei Klassen: Das Jugendforum 2019 hat Schülerinnen und Schüler aus Sachsen-Anhalt (Oschersleben) und Niedersachsen (Meinersen) an einen Tisch gebracht. Unter dem Motto „9. November 1989 – 30 Jahre Mauerfall“ diskutierten die Mädchen und Jungen im Landtag von Niedersachsen in Hannover einen Tag lang über die Folgen der politischen Wende im Herbst 1989 und wie die Situation zwischen Ost und West heute insbesondere von Jugendlichen wahrgenommen wird. Die gemeinsame Veranstaltung fand auf Einladung der beiden Landtagspräsidentinnen Dr. Gabriele Andretta und Gabriele Brakebusch statt.

Enge Freundschaft zwischen beiden Bundesländern

Der Fall der Mauer sei ein großer Tag für die Demokratiegeschichte der Deutschen gewesen, betonte Niedersachsens Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta, denn die Menschen in der DDR hätten auf friedlichem Wege die Mauer zum Einsturz gebracht. Die deutsch-deutsche Teilung indes sei in Niedersachsen unmittelbar spürbar gewesen, die Grenze habe über eine lange Zeit Familien und Freunde auseinandergerissen. Heute lebten wir in einem freien, vereinten, friedlichen Land. Es bestehe eine enge Freundschaft zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die Beziehungen zueinander seien sehr weitreichend.

Die jugendlichen des Forums entstammten einer Generation, die ohne Mauer und Teilung aufgewachsen sei, sie hätten keine eigenen Erinnerungen an ein Leben in zwei unterschiedlichen deutschen Staaten, so Andretta. Das Jugendforum 2019 setze eine Begegnung vor fünf Jahren in Magdeburg fort. Damals sei das Fazit zu Demokratie, Deutschland und Europa positiv ausgefallen. „Wie sieht es heute aus?“, fragte die niedersächsische Landtagspräsidentin. Viel habe sich politisch und gesellschaftlich in Deutschland in den zurückliegenden fünf Jahren verändert. Hass, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit stünden auf der Tagesordnung. Antisemitismus und Rassismus seien bedauerlicherweise in der Mitte der Gesellschaft angekommen. 

Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren habe den Menschen im Westen, mehr noch im Osten viel abverlangt. Heute gelte es, auch die Mauern in den Köpfen einzureißen, so Niedersachsens Landtagspräsidentin.

„Friedliche Revolution war ein Gottesgeschenk“

Sachsen-Anhalts Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch hat die deutsche Teilung auf verschiedene Weise erlebt: Als Kind und Jugendliche recht unbedarft in der Heimat Kloster Gröningen, sehr bewusst dann nach der Heirat und dem Umzug ins Grenzgebiet Harbke Mitte der 1970er Jahre. Hier seien die Restriktionen deutlich zu spüren gewesen. Im Ort unterwegs sein ohne Personalausweis – damals undenkbar, „hier waren bewaffnete Grenzer sofort zur Stelle“.

„Wir müssen immer wieder über diese Zeit berichten, aber wir müssen auch darauf achten, dass es nicht zu viel wird“, so Brakebusch. Nur so könne man sicherstellen, dass die nachgekommenen unbeteiligten Generationen nicht das Interesse an der gemeinsamen deutschen Geschichte verlören. Niemand habe damit gerechnet, dass die DDR komplett zugrunde gehen würde, aber dass sich „etwas tat“, das sei klar gewesen, so Brakebusch, die Montagsdemonstrationen und die Gebete in den Kirchen hätten klargemacht, dass das Volk sich nicht länger einschüchtern lassen würde. „Bewaffnet“ seien die Demonstranten nur mit Kerzen gewesen, selbst die SED-Führung habe nicht mit anhaltender Gewaltfreiheit gerechnet. „Schon allein vor diesem Hintergrund war diese Friedliche Revolution ein Gottesgeschenk“, betonte Brakebusch. Aus dem Slogan „Wir sind das Volk!“ sei durch die Tausenden von Leuten nach nur wenigen Wochen „Wir sind ein Volk!“ geworden.

Dann hat der „Wahnsinn“ begonnen

Die Leiterin der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, Dr. Annemarie Susan Baumgartl, legte mit ihrem Impulsreferat am Beginn des gemeinsamen Jugendforums den Grundstein für die später in den Workshops zu führenden Diskussionen rund um den Themenkomplex „30 Jahre Mauerfall“. Es lohne sich, sich darüber auszutauschen, woher wir kommen und wohin wir gehen wollten, so Baumgartl.

Es habe vierzig Jahre lang zwei verschiedene Vorstellungen darüber gegeben, wie Gesellschaft funktionieren solle. Die beiden deutschen Staaten habe eine hochgesicherte und todbringende Grenze getrennt. Die Mischung aus Flucht und Protest habe die DDR-Staatsführung schließlich so unter Druck gesetzt, dass die Grenzen geöffnet wurden. Dann habe ein „Wahnsinn“ begonnen, wie Zeitzeugen diese Wochen und Monate nach dem Mauerfall immer wieder bezeichneten.

„Inwiefern sind wir anders oder sind Ost und West nur noch Konstruktionen, die dieser heutigen Gesellschaft gar nicht mehr gerecht werden?“, fragte Baumgartl. Die Lebenserfahrungen aus 40 Jahren Ost und West seien mit Stand 1990 sehr unterschiedlich gewesen. Während das Leben im Westen mehr oder weniger so weiterverlaufen sei wie zuvor, habe sich im Osten plötzlich alles total verändert.

Die Vereinigungs- und Angleichungsprozesse verliefen seit 1990 langsamer als gedacht. Die Wirtschaftskraft sei im Osten nach wie vor niedriger, was sich wiederum auf die Löhne und die wirtschaftliche Lage auswirke. 57 Prozent der Menschen empfänden sich nach wie vor als „Bürger zweiter Klasse“,  nur 38 Prozent der Befragten werteten die Wiedervereinigung als gelungen. Auch junge Menschen zeigten sich skeptisch, was den Erfolg der Wiedervereinigung betreffe, konstatierte Baumgartl. 

Der Aufbruch ‘89 habe viele Ideen freigesetzt, es habe aber wenig Zeit und Raum für Verhandlungen gegeben. Heute seien die Möglichkeiten des Mitbestimmens und des politischen Engagements vielgestaltiger, diese müssten nur angenommen werden.

Antwortensuche in den Workshops

Den schwersten Teil des Jugendforums hatten traditionsgemäß die Jugendlichen selbst zu bestreiten. In zwei Workshops waren eine Reihe von Fragen aufgeworfen worden, für die die jungen Damen und Herren Antworten zu finden versuchten. Eine denkbar schwierige Aufgabe, haben doch selbst die Erwachsenen, die den Mauerfall und jene Monate davor und danach leibhaftig miterlebt hatten, bis heute keine allseits befriedigenden Antworten gefunden: Was ist unsere Identität? Gibt es Unterschiede zwischen der Jugend im Osten und der im Westen? Wie wollen wir unsere gemeinsame politische Zukunft gestalten? Wofür engagieren wir uns?

In Sachen Identität und Werte haben die Workshopteilnehmer/innen zwischen Ost und West im Besonderen keine großen Unterschiede festgestellt. „Wir gehen in Ost und West alle in dieselbe Richtung“, lautete das einhellige Fazit. Strukturelle Ungleichheiten sollten hier und dort behoben werden. Die Differenzierung von Ost und West spiele vor allem bei den älteren Generationen noch eine Rolle, bei der Jugend von heute, so das Resultat der Workshoparbeit, sei das nicht mehr der Fall. Akzeptanz und Mitgefühl sollten stärker gefördert werden, ein zusätzlicher Punkt war ein moderner Umweltschutz.

Bei der Auswertung der Workshopergebnisse diskutierten die Teilnehmer/innen zum Abschluss des Jugendforums mit den jugendpolitischen Sprecherinnen und Sprechern der verschiedenen Fraktionen der zwei Landtage. Hier stellten sich Immacolata Glosemeyer (Niedersachsen; SPD), Marcel Scharrelmann (Niedersachsen; CDU), Helge Limburg (Niedersachsen; Grüne) und Jan Wenzel Schmidt (Sachsen-Anhalt; AfD) den zahlreichen Fragen und Anregungen.

Die Ergebnisse der beiden Workshops wurden von den Schülerinnen und Schülern im Leibnizsaal des niedersächsischen Landtags vorgestellt. Foto: Stefan Müller