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Plenarsitzung

Ein dreifaches Verfassungsjubiläum

Die Fraktionen hatten sich im Ältestenrat darauf verständigt, das Format der Vereinbarten Debatte in Anlehnung an das Verfahren im Deutschen Bundestag einzuführen. Dabei tauschen die Abgeordneten zu einem aktuellen Thema ihre Meinung aus. Anlässlich des dreifachen Verfassungsjubiläums wurde dieses Format nun erstmals im Mai-Plenum des Landtags genutzt. Thema der Debatte: „70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung – 100 Jahre Verfassung von Anhalt“.

Das Cover einer gebräuchlichen Ausgabe des Grundgesetzes, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Foto: Archiv

„Grundgesetz ein Leuchtturm der Freiheit“

Der Parlamentarische Rat hatte von den Alliierten den Auftrag erhalten, eine Verfassung auszuarbeiten, erinnerte Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch. In dieser sollten Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus gezogen werden. „Für mich ist das Grundgesetz ein Leuchtturm der geschichts- und verantwortungsbewussten Freiheit“, bekannte Brakebusch. Es sei zur Lebensordnung unserer Gesellschaft geworden. „Warum? Weil die Mehrheit der Menschen es in unserem Land so will.“ Die freiheits- und grundrechtsbezogene Ordnung habe auch eine enorme Anziehungskraft auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR entwickelt, erinnerte die Landtagspräsidentin. „Wir sind in guter Verfassung, ob es so bleibt, liegt vor allem in den Händen von uns Menschen, die unter diesem rechtlichen Dach leben.“

„Demokratie fordert Mitarbeit“

Die Verfassung der Weimarer Republik sei zwar verabschiedet worden, spätestens 1933 aber gescheitert, erklärte Siegfried Borgwardt (CDU). Die Mütter und Väter des Grundgesetzes schöpften aus der historischen Erfahrung. So sei der Katalog der 19 Grundrechte unmittelbar an den Anfang des Grundgesetzes gestellt worden. Die Würde des Menschen und deren Unantastbarkeit sei folgerichtig in Artikel 1 festgehalten. Dem Bundesverfassungsgericht komme die Aufgabe zu, die Umsetzung des Grundgesetzes zu überwachen.

Die Demokratie fordere die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger, so Borgwardt: „Demokratie muss jeden Tag aufs Neue gefestigt werden“, denn sie sei nicht unerschütterlich. Ein jeder könne für sich die eigenen Grundrechte einfordern. Aber wer nach einfachen Lösungen schreie, habe die komplexen Zusammenhänge der globalisierten Welt nicht verstanden. „Es fehlt nicht an politischen Teilnahmemöglichkeiten“, so Borgwardt. Aber es sei freilich einfacher, einmal in der Woche krakeelend durch die Straßen zu ziehen, als sich kontinuierlich in Parteien und Verbänden zu engagieren.

„Grundgesetz ist eine Lebenseinstellung“

Die Verfassungsmütter und -väter hätten die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen, konstatierte Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff (CDU). Die Weimarer Republik sei an vielen Krisen gescheitert, unter anderem an der fehlenden Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien, erinnerte Haseloff. Dennoch sei die Weimarer Verfassung modern und innovativ gewesen. Schon in ihr habe es geheißen, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe. Darüber hinaus war in ihr das Frauenwahlrecht verzeichnet gewesen.

„Das Grundgesetz ist konzipiert als Antithese zum politischen Extremismus, es ist sowohl Lebensform als auch Lebenseinstellung“, so Haseloff. Das Grundgesetz stehe für Gewaltenteilung und Volkssouveränität; extremistische und antisemitische Einstellungen hätten dagegen in unserer Gesellschaft keinen Platz. „Ich plädiere für einen echten Verfassungspatriotismus – eine geschriebene Verfassung habe keinen Wert, wenn sie nicht mit Leben gefüllt und nach ihr gehandelt werde.“ Dieser Grundsatz habe den Weg auch für die Wiedervereinigung geebnet, für den Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit.

„Grundgesetz ohne Legitimität“

Die Verfassung der Weimarer Republik sei die erste effektive Verfassung Deutschlands gewesen, sagte Oliver Kirchner (AfD). Das Grundgesetz sei eine modifizierte Neubelebung der Weimarer Verfassung – in manchem Vorbild, in manchem Mahnung und Wunsch nach Verbesserung. Es habe nach dem Zweiten Weltkrieg aber keine verfassungsgebende Versammlung gegeben, stattdessen habe der Parlamentarische Rat auf Druck der Alliierten das Grundgesetz ausgearbeitet. Diesem fehle bis heute die Legitimation durch das Volk, mutmaßte Kirchner. Er monierte, dass im Zuge der Wiedervereinigung keine neue gesamtdeutsche Verfassung erarbeitet worden sei.

Auch der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt sprach Kirchner die Legitimation ab. Die Grünen bezeichnete Kirchner als Demokratiefeinde, vor denen die Verfassung zu schützen sei. Die „Identität des Staatsvolkes“ sei gefährdet, so der AfD-Fraktionsvorsitzende. Die „Eingriffe der EU und des Bundes“ führten zu einer Entwertung der hiesigen Verfassung.

Nagelprobe steht noch bevor

Dass die Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung zum Niedergang der Republik und zur Barbarei des Nationalsozialismus geführt hätten, sei mittlerweile widerlegt. „Denn Menschen machen Geschichte – dort liegt die Verantwortung und nicht in Verfassungen“, erklärte Eva von Angern (DIE LINKE). Ja, die PDS habe nach dem Ende der DDR eine neue gesamtdeutsche Verfassung gewollt, räumte von Angern ein, gleichwohl habe das Grundgesetz nach der SED-Diktatur für verfassungsrechtliche Stabilität gesorgt. Eine gesamtdeutsche Verfassung hätte zu mehr Identifizierung im Osten führen können, hinzu kämen Fehler der westdeutsch dominierten Politik der 1990er Jahre.

Das Grundgesetz stärke die Gewissheit der Gleichwertigkeit der Menschen, es sei frei von Ideologien und Dogmen, aber nicht frei von Werten; es sei kein Schlussstein der Geschichte, lobte von Angern: „Für mich ist das Grundgesetz ein Teil des Fundaments unserer Gesellschaft“, es gelte, den prorepublikanischen Charakter des Grundgesetzes unbedingt zu wahren. Von Angern kritisierte dagegen die soziale Schieflage in einem der reichsten Länder der Erde. Über vier Millionen Kinder lebten in Armut, der Reichtum sei zu einseitig verteilt. Auch 30 Jahre nach der Wende werde DIE LINKE aufgrund der historischen Verbindung zur SED für Defizite selbst bei tagespolitischen Fragen verantwortlich gemacht, kritisierte von Angern. Eine Nagelprobe wie die Weimarer Verfassung habe das Grundgesetz noch nicht überstehen müssen, aber vermutlich stehe ihm dies noch bevor, mutmaßte von Angern.

„Haben eine menschenfreundliche Verfassung“

Der Übergang vom autokratischen Kaiserreich zur demokratischen Republik sei wie selbstredend mit dem Föderalismus, also der Eigenständigkeit der Länder, einhergegangen, erinnerte Holger Hövelmann (SPD). Er verwies zudem auf die frühe demokratische Tradition im Freistaat Anhalt. „Es ist eine Binsenweisheit: Die Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten“, sagte Hövelmann. Die Weimarer Republik sei mehr als nur der Übergang vom Kaiserreich zur NS-Diktatur. Deren Zusammenbruch sei Resultat verschiedenartiger Interessen gewesen.

„Die Bundesrepublik ist zweifellos stabiler als die Weimarer Republik“, die Machtverhältnisse seien besser austariert. Weil die Wiedervereinigung als Beitritt geregelt wurde, seien keine ostdeutschen Erfahrungen in die Verfassung eingeflossen, räumte Hövelmann ein. Dies könne als Mangel bezeichnet werden, dennoch sei das Grundgesetz ein einigendes Band geworden. „Die Stärke dieser Verfassung liegt darin, dass ihr Kern ein Wertekatalog ist, in dem die Würde des Menschen unantastbar ist. Wir haben in ihrer Grundausrichtung eine menschenfreundliche Verfassung.“ Es sei also wenig verwunderlich, dass Verfassungsgegner die Rechtmäßigkeit der Verfassung in Frage stellten und sogar bezweifelten, dass die Bundesrepublik ein echter Staat sei.

Verfassungsgeschichte mit schmerzhaften Brüchen

Die Verfassungen von Anhalt und Weimar und schließlich das Grundgesetz von 1949 seien die Marksteine des deutschen Parlamentarismus, konstatierte Sebastian Striegel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Das Grundgesetz sei möglich geworden, weil die Alliierten die Deutschen vier Jahre zuvor vom Hitlerfaschismus befreit hätten. Während in der ganzen Bundesrepublik 70 Jahre Grundgesetz gefeiert würden, näherten sich die ostdeutschen Länder allerdings erst dem 30. Jahrestag der Gültigkeit des Grundgesetzes. 40 Jahre lang hätten nämlich die drei Verfassungen der DDR im Osten der Republik gegolten. Die Verfassungsgeschichte Sachsen-Anhalts sei also nicht ohne schmerzhafte Brüche.

Striegel erinnerte daran, dass in der Weimarer Republik die Demokratie mit den gegebenen demokratischen Mitteln abgeschafft worden sei. Neben den Grundrechten enthalte das Grundgesetz auch grundlegende Entscheidungen für den demokratischen Staatsaufbau, darunter das Konzept der wehrhaften Demokratie, die sich von innen heraus selbst verteidigen könne. Das Grundgesetz habe sich als erfolgreiche Verfassung bewährt, betonte Striegel.

Deutschland verfüge heute – anders als die Weimarer Republik – über eine gewachsene demokratische Substanz. Der Grundkonsens zur Wertegemeinschaft müsse dauerhaft stabilisiert werden. Das aufklärerische Projekt des Verfassungspatriotismus müsse gegen autoritäre Versuchungen verteidigt werden.

„Armes Deutschland, armes Grundgesetz“

„Das Grundgesetz ist heilig und kostbar“, sagte André Poggenburg (fraktionslos). Eine der Bedrohungen des Grundgesetzes sei der immer gewaltbereitere Linksextremismus im Land. Auch der hochaggressive Islamismus sei eine direkte Bedrohung des Grundgesetzes. Wenn man sich nicht mehr traue, gegen „Masseneinwanderung“ und „importierte Gewalt“ zu demonstrieren – „dann muss ich sagen: Armes Deutschland, armes Grundgesetz“, konstatierte Poggenburg. Manche Formulierungen des Grundgesetzes seien nicht mehr eindeutig genug, dies ließe dessen Missbrauch zu und führe zu Narrenfreiheit in einigen Bereichen. Poggenburg sprach sich für eine neue Verfassung für Deutschland aus.

Am Ende der Vereinbarten Debatte wurden keine Beschlüsse gefasst.