Wulf Gallert (DIE LINKE): 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte erschüttert sein - man müsste es eigentlich auch sein  , wenn man davon ausginge, dass die gesellschaftliche Debatte zur ökonomischen Entwicklung auf dem Niveau im Land stattfindet wie in diesem Landtag. Das tut sie zum Glück nicht; das ist mein Hoffnungsschimmer.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ja, wir steigern das Bruttosozialprodukt und freuen uns darüber. Selbstverständlich können wir uns freuen, wenn wir ein Jahr lang 0,3 % über dem ostdeutschen Durchschnitt liegen. Das kann man tun. Ich frage mich, was wir im nächsten Jahr tun, wenn wir möglicherweise 0,3 % unter dem ostdeutschen Durchschnitt sind. Kommen dann die Untergangsszenarien?

(Olaf Meister, GRÜNE, lacht)

Apropos Untergangsszenarien. - Herr Siegmund, ich höre jetzt im Grunde genommen seit 2016 dieselben Prognosen für dieses Land.

(Ulrich Siegmund, AfD: Ja! - Zuruf von Sebastian Striegel, GRÜNE)

Wenn das irgendeine Form von Rationalität wäre, dann wären wir alle längst ausgewandert, alles wäre längst pleite.

(Zuruf von Lothar Waehler, AfD)

Wir wären im Grunde genommen als Sachsen-Anhalt gar nicht mehr existent. Seit dem Jahr 2016 hören wir dieselben Untergangsszenarien. Nach 30 Sekunden schaltet sich mein Gehirn ab, weil ich das als eine Beleidigung empfinde; ehrlich, Kollege Siegmund.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zuruf von Nadine Koppehel, AfD)

Na ja, und dann jubelt die CDU über 0,3 % mehr BIP über dem ostdeutschen Niveau. - Okay, soll sie jubeln; meinetwegen. Das können wir gern machen. Vielleicht wäre es aber einmal wichtig, sich ein bisschen genauer mit den Rahmendaten auseinanderzusetzen, um die es hierbei geht.

Erstens. Wenn wir uns die Zahlen für das Jahr 2022 anschauen - das will ich tatsächlich tun; ich habe als alter Mathelehrer natürlich eine entsprechende Ambition  , dann stellen wir fest: Sachsen-Anhalt verzeichnet 2,6 % Wachstum; Ostdeutschland ohne Berlin verzeichnet 2,3 %, Berlin übrigens 4,9 %. Je Person -das ist wiederum auch interessant  : Sachsen-Anhalt 2,4 %, Berlin 1,5 %, Ostdeutschland ohne Berlin 1,6 %. Das ist interessant. Die Arbeitsproduktivität pro Beschäftigten wächst in Sachsen-Anhalt spürbar deutlicher als im Rest Ostdeutschlands. Darüber müssten wir uns einmal Gedanken machen. Das ist ein wirklich interessanter Vergleich.

Schauen wir uns jetzt allerdings einmal einen Langzeitvergleich seit dem Jahr 2015 an, dann sieht es wie folgt aus: Das Bruttoinlandsprodukt insgesamt stieg in Sachsen-Anhalt seit dem Jahr 2015 um 6,3 %, in Ostdeutschland ohne Berlin 7,1 %, aber in Berlin - das ist die interessante Zahl - um 23,6 %. Wir liegen im Grunde genommen im Trend der ostdeutschen Länder. Wir sind im Langzeitvergleich etwas schlechter, aber wir liegen im Trend. Die eigentliche Musik in Ostdeutschland spielt woanders, und zwar in Berlin. Wir haben seit dem Jahr 2015, allerdings pro Person, auch hier den besten Wert: 7,2 % Steigerung beim Bruttoinlandsprodukt pro Person oder pro Beschäftigten - 5,9 % in Berlin; Ostdeutschland ohne Berlin 5,0 %.

Unser Problem in Sachsen-Anhalt ist nicht, dass sich die Arbeitsproduktivität nicht entwickeln würde. Unser Problem in Sachsen-Anhalt ist die im Verhältnis zu den anderen Ländern schon jetzt eingeschränkte - und übrigens nicht mehr eine Million Arbeitsverhältnisse betreffende  , sinkende Arbeitskraft in Sachsen-Anhalt; das ist das entscheidende Problem. Wer die wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft garantieren will, der muss dieses Problem angehen. Das bedeutet, attraktiv für Arbeitnehmer zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen; das ist die absolut entscheidende Stelle dabei.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage einmal, was für mich auch interessant ist: Herr Thomas dankt. Der Wirtschaftsminister dankt. Wem danken beide? - Den Unternehmern, den Unternehmen.

(Zuruf)

Das Wort „Beschäftigter“ kam bei dem Dank weder bei dem einen noch bei dem anderen vor. 

(Beifall bei der LINKEN)

Die 950 000 Beschäftigten sind diejenigen, die in den Unternehmen diesen Reichtum erarbeiten. Das ist schon interessant.

(Unruhe)

Holger Hövelmann, ich habe Sie an der Stelle nicht erwähnt. Das tue ich jetzt. Holger Hövelmann hat es anders gemacht. Das erwartet man von dem ehemaligen Landesvorsitzenden und heutigen wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD auch ein bisschen. Interessant ist, dass das bei der CDU nicht vorkommt. Das allerdings ist schon bemerkenswert.

(Unruhe bei der CDU - Zurufe: Wieso? - Hallo!)

Ich sage, wenn die Fachkräftegewinnung die zentrale Aufgabe ist, dann müssen wir uns erst einmal angucken, was die Arbeit der Fachkräfte in Sachsen-Anhalt wert ist. In diesem Zusammenhang gibt es im Grunde genommen verschiedene Aspekte, die man gut miteinander vergleichen kann. Die Böckler-Stiftung hat jetzt erst wieder einen Vergleich bezüglich der Tarifbindung, der Arbeitszeit, der Lohnentwicklung herausgebracht. Einige Dinge stehen auch im Koalitionsantrag, allerdings aus einer anderen Erhebung.

Wir haben in Deutschland die Situation, dass es bei den Tarifverträgen Unterschiede gibt. Nun kann man die Formulierung „Wir haben eine steigende Tarifbindung im Gegensatz zu Deutschland“ oder „Wir haben eine besser steigende Tarifbindung“ mit unterschiedlichen Zahlen belegen. So ganz eindeutig ist es nicht. Fakt ist: Wir liegen in Sachsen-Anhalt nach wie vor unter der Tarifbindung. Warum ist das aber interessant für die Arbeitsverhältnisse?

Es ist so, dass wir im Vergleich zum deutschen Durchschnitt bei den Arbeitsverhältnissen ohne Tarifvertrag um 630 € unter dem Durchschnitt liegen. Bei denen mit Tarifvertrag sind es 420 €. Das ist immer noch erheblich. Aber wir sehen, die größte Schere beim Einkommen liegt in dem Bereich ohne Tarifvertrag. Da liegen wir bei der Tarifbindung leider immer noch etwas unter dem Bundesdurchschnitt. Das bedeutet im Endeffekt: Wenn ich bessere Arbeitsverhältnisse haben will - und die sind entscheidend dafür, ob die Leute hierherkommen oder nicht  , brauche ich eine höhere Tarifbindung, um mehr Geld in die Kasse zu kriegen;

(Beifall bei der LINKEN)

ansonsten sind wir in der Konkurrenzsituation chancenlos.

Gehen wir weiter. Es ist natürlich nicht nur das Einkommen. Wir haben an anderer Stelle ein ähnliches Problem. Wir haben vor allen Dingen - interessanterweise nicht bei den Beschäftigten ohne Tarifvertrag, sondern bei denen mit Tarifvertrag - das Problem, dass wir tatsächlich sehr, sehr lange Arbeitszeiten haben. 

Aber ich sage: Genauso wie die Löhne wird die Länge der Arbeitszeit auch ein entscheidendes Merkmal dafür sein, ob ich hier bleibe, ob ich hierherkomme oder ob ich weggehe. Auch dabei liegen wir deutlich über dem Durchschnitt. 

Das führt übrigens dazu, dass in Sachsen-Anhalt die Differenz zwischen den Einkommen von Beschäftigten ohne Tarifvertrag und den Einkommen von Beschäftigten mit Tarifvertrag am größten in der gesamten Bundesrepublik ist. Wir haben unbereinigt einen Unterschied von 27 %, selbst bereinigt von 14 %. Wir brauchen eine höhere Bindung an Tarife, damit Sachsen-Anhalt für Fachkräfte wirklich attraktiv wird; das ist die entscheidende Stelle. Erstens.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens brauchen wir eine substanzielle Verbesserung dessen, was in schulischer Ausbildung und danach passiert. Wir haben nach wie vor das Problem der hohen Abbrecherquoten. Wir haben auch das Problem, dass das Qualifikationsniveau insgesamt - übrigens auch die Abiturquote - in Sachsen-Anhalt und auch die Studienquote mit am niedrigsten sind.

(Zuruf von Ministerin Eva Feußner)

- Klar, überall woanders wird das Abitur verschenkt; das kann Ihre Position sein. Trotzdem sind die Zahlen eindeutig. 

(Zuruf von Ministerin Eva Feußner)

Wissen Sie, was ich überhaupt nicht mehr verstehe, ist: Wir alle regen uns darüber auf, dass wir nicht genug Lehrer haben - in Ordnung  , als nächster Satz fällt aber: „Die Leute sollen nicht alle studieren.“ Wir brauchen mehr Studenten, damit wir mehr Lehrer haben, damit wir unser Ausbildungssystem verbessern, liebe Kolleginnen und Kollegen. So weit kann man doch bitte einmal denken, auch die Bildungsministerin übrigens.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen als Nächstes die öffentliche Infrastruktur. Wonach entscheiden sich die Leute, wohin sie gehen? - Wohnen, Bildung, Kita, Gesundheit, ÖPNV, Kultur, Sport - das entscheidet über die Attraktivität für Fachkräfte, das entscheidet über die Attraktivität des Standortes Sachsen-Anhalt. Das sind die Dinge, über die wir reden müssen. Das sind die entscheidenden Fragen.

Ganz am Ende: Na klar, brauchen wir eine Willkommenskultur. Natürlich ist es so, dass Sachsen-Anhalt nicht unbedingt überall dafür bekannt ist, eine besonders gute, perfekte Aufnahmesituation für Menschen zu bieten. 

Unser Problem im Herangehen ist nur Folgendes - diesbezüglich wiederholt sich ein Fehler aus den 60er-, 70er-Jahren in der Bundesrepublik  : Wir reden hier über Fachkräfte? Wenn Menschen kommen, kommen Menschen. Die Situation ist damals so beschrieben worden, gerade bei VW: Wir suchten Fachkräfte und es kamen Menschen. 

Willkommenskultur heißt nicht, nach dem Motto auszusuchen „Dort ist der Arbeitsplatz frei - wer hat die perfekte Qualifikation auf der ganzen Welt?“, um dann dahin zu kommen: „Wir brauchen diesen Arbeitsplatz nicht mehr - weg! Er kann wieder gehen“. Nein, Willkommenskultur bedeutet, sich auf Internationalität, auf Diversität, auch auf Multikulturalität einzustellen. Ansonsten sind wir unattraktiv und wir verlieren diesen Wettbewerb um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das sind die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung Sachsen-Anhalts als Wirtschaftsstandort.

(Beifall bei der LINKEN)

Es wäre wichtiger, sich darauf zu konzentrieren, als das Feindbild Grüne zu erklären - darin sind sich CDU und AfD inzwischen offensichtlich einig - und hier Debatten zu führen, die man im 19. Jahrhundert führen könnte, aber bitte nicht unter den jetzigen Bedingungen. - Danke, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Es gibt eine Intervention. - Herr Scharfenort, bitte.


Jan Scharfenort (AfD):

Ich möchte sachlich ergänzend in die Debatte einwerfen: Wir haben uns bis jetzt immer nur das nominale Wachstum angeschaut. Wir hatten im Jahr 2022 eine Inflationsrate von 7,9 %. Wenn Sie diese jetzt einmal von dem nominalen Wachstum abziehen, dann haben wir eben kein reales Wachstum gehabt, sondern wir haben letztendlich eine negative Entwicklung. Das Gleiche finden Sie bei den Löhnen. Real haben wir keine Einkommenssteigerungen, sondern letztendlich Lohnverluste zu verzeichnen. Das wollte ich einfach in die Debatte einwerfen. Wir rechnen uns hier alle schön und reich. Am Ende sind wir nominal alle reicher geworden, aber real sind wir alle ärmer geworden.


Wulf Gallert (DIE LINKE):

Herr Scharfenort, das ist das Problem mit Brutto und Netto. Das mit der Bruttoeinwanderung und der Nettoeinwanderung und dass man das eine von dem anderen abziehen muss, damit man zu dem richtigen Ergebnis kommt, hatte Ihr Kollege im Wirtschaftsausschuss auch schon durcheinandergebracht.

(Zuruf)

Alle Zahlen, die ich vorgelesen habe, sind natürlich preisbereinigt. Da ist die Inflation gegengerechnet worden. Somit haben wir Realzahlen. Es gibt allerdings - das will ich sagen - einen anderen Umstand: Wir haben bei den Reallöhnen, und zwar in der gesamten Bundesrepublik, jetzt das dritte Jahr in Folge einen negativen Trend. Das heißt, wir haben im dritten Jahr in Folge bei den Reallöhnen einen Kaufkraftverlust, und zwar im Jahr 2022 um 4 %. 4 % realer Kaufkraftverlust bei Wirtschaftswachstum, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei Wirtschaftswachstum! Deswegen haben wir ein Verteilungsproblem. Deswegen können wir gern über Energiepreise reden. 

(Zustimmung)

Aber ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass RWE seine Gewinne im ersten Quartal auf 365 % gesteigert hat?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir regen uns über hohe Energiepreise auf, aber sehen offensichtlich die Ursachen nicht. Das sind Dinge, die in diese Debatte gehören. Dabei unterscheiden wir uns sehr deutlich von der Wahrnehmung von CDU und AfD. - Danke, liebe Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)