Tagesordnungspunkt 14

Beratung

Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in Afghanistan übernehmen! Menschenleben retten - sichere Fluchtwege schaffen - Landesaufnahmeprogramm initiieren

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/139


Einbringerin für die Fraktion DIE LINKE ist die Abg. Frau Quade. - Frau Quade, Sie haben das Wort.


Henriette Quade (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 26. August 2021 wurde die deutsche Evakuierungsmission in Afghanistan eingestellt. Es wäre gut, sie wäre nicht nötig. Es wäre nicht gut, aber doch zumindest besser, sie würde beendet, weil dank einer internationalen Kraftanstrengung rechtzeitig ein Weg gefunden worden wäre, all jene, die gefährdet sind und Afghanistan verlassen müssen, herauszuholen, weil es ein Bewusstsein für gemeinsame Verantwortung gegeben hätte, weil es eine politische Mehrheit für humanitäre Hilfe gegeben hätte und diese im Bundestag rechtzeitig beschlossen worden wäre, weil man Fehler ausgleichen wollte, weil man die Lage rechtzeitig adäquat eingeschätzt hätte und die notwendigen Konsequenzen gezogen hätte.

Aber das ist nicht so. Das Ende der Evakuierungsmission hatte rein gar nichts damit zu tun, dass irgendwelche Ziele erreicht worden wären.

(Beifall)

Sie wurde beendet, weil es einerseits das Ultimatum der Taliban gab und weil andererseits nicht die Bereitschaft bestand, über die Aufnahme Geflüchteter zu reden, ja, weil das Thema im beginnenden Wahlkampf zunächst einmal unbedingt gemieden werden sollte. Mitte August, noch bevor die halbherzige und viel zu spät gestartete Evakuierungsmission beschlossen wurde, fiel dann der Schlüsselsatz durch den Kanzlerkandidaten der Union, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

(Zuruf: Ist doch richtig so! - Weitere Zurufe)

Dieser Satz bedeutet   und der Applaus von der rechten Seite zeigt es  :

(Zurufe: Nein, Frau Quade! - Das waren wir gar nicht! - Das war die Mitte! - Die Mitte! - Wer hat denn hier geklatscht? - Langsam!)

Humanitäre Hilfe darf sich nicht wiederholen.

(Daniel Roi, AfD: Einwanderung begrenzen - Frau Wagenknecht!)

Dieser Satz bedeutet, dass Wahlkampfinteressen wichtiger sind als das Bemühen, Leben zu retten.

(Beifall - Zuruf: Danke für den Applaus!)

Dieser Satz will natürlich nie so gemeint sein, aber er bedeutet eben auch, dass die Menschen, die über Jahre hinweg mit der Bundesrepublik zusammengearbeitet haben, angeworben und ausgebildet wurden, übrigens auch aus Sachsen-Anhalt heraus,

(Zuruf: Aber keine 15 000!)

dass ihre Familien, dass Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Lehrerinnen, Anwältinnen, Menschenrechtlerinnen und alle, die unmittelbar von den Taliban bedroht sind, schlichtweg nicht zählen.

(Zurufe)

Dieser Satz ist die Zuspitzung politischen und moralischen Versagens.

(Beifall)

Zu diesem Versagen gehört es auch, dass noch bis zum 11. August 2021 nach Afghanistan abgeschoben wurde, auch aus Sachsen-Anhalt,

(Beifall)

obwohl auch vor dem Abzug der Truppen klar war: Afghanistan ist vieles, aber nicht sicher.

Zu diesem Versagen gehört auch, dass die Warnungen zu den mit dem Abzug der US-Truppen und der Bundeswehr einhergehenden Gefahren für Ortskräfte und alle, die sich nach einem freien und demokratischen Afghanistan sehnen, offensichtlich ignoriert wurden. Dazu passt die Entscheidung der Mehrheit des Bundestages, kein Evakuierungsprogramm für Ortskräfte und ihre Familien aufzulegen, als noch Zeit dafür gewesen wäre.

Mittlerweile ist es normal, dass Appelle von NGOs, von Hilfsorganisationen, von Menschenrechtsorganisationen verhallen. Dass aber auch die Mitarbeiterinnen der deutschen Botschaft mit ihren Warnungen, Appellen und Bitten über Monate hinweg auf verschlossene Ohren im Außenministerium stießen, macht fassungslos.

(Zustimmung)

Ich bin mir sicher: Nicht nur mich haben die Schilderungen und die Einblicke von Menschen, die Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte gegeben hat, schockiert, der über Monate hinweg mit präziser Kenntnis der Lage in Afghanistan Briefe schrieb, Hilfe anbot und Handlungen einforderte, um diejenigen zu retten, die bis dato als Verbündete galten. - Vergebens und ohne Antwort. So harrten Ortskräfte in Safehouses aus, warteten auf Hilfe, die nicht kam, und saßen damit in der Falle.

Am 9. Juni 2021 wurde Außenminister Heiko Maas im Bundestag - übrigens von einem FDP-Politiker - dazu befragt, ob nicht auch jenen afghanischen Ortskräften die Ausreise nach Deutschland ermöglicht werden sollte, die nicht für die Bundeswehr, sondern für die deutsche Entwicklungshilfe gearbeitet haben. Die Antwort von Heiko Maas lautete: All diese Fragen haben ja zur Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban das Zepter in Afghanistan in der Hand haben werden; das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen.

„Der Tagesspiegel“ zitierte den Afghanistan-Experten Thomas Ruttig im August 2021 mit den Worten: „Am Ende wurden die Taliban unterschätzt und die afghanische Armee überschätzt. Über Jahre hat man sich daran gewöhnt, das Bild von Afghanistan zu schönen.“

Das verweist darauf, meine Damen und Herren, dass wir es nicht nur mit unfassbaren Fehleinschätzungen zu tun haben, sondern auch mit dem, was Marcus Grotian mutwilliges Versagen nennt, weil immer wieder die Zahl der Ortskräfte heruntergerechnet wurde, Menschen als nicht schutzbedürftig eingestuft wurden, weil sie bürokratische Fristen nicht erfüllen konnten, und weil zusätzliche Hürden wie starre Visavergabeverfahren eingezogen wurden. Das bedeutet auch, dass es eine der ersten und dringendsten Aufgaben des Bundestages sein wird, dieses Totalversagen umfassend aufzuarbeiten.

(Beifall)

Für Afghaninnen, die bereits in Deutschland leben, haben diese geschönte Lage und das Nicht-Anerkennen der absolut prekären Sicherheitslage im Land schon längst Konsequenzen. Seit 2016 wurden mehr als 1 000 Menschen dorthin abgeschoben, auch aus Sachsen-Anhalt. Familiennachzug trifft auf enorme Hürden und stellt nicht erfüllbare Bedingungen. Hier lebende Afghaninnen haben oft keinen sicheren Aufenthaltstitel, was massive Konsequenzen für den Zugang zu Sprachkursen, zum Arbeitsmarkt und für die Teilhabe an dieser Gesellschaft im Allgemeinen hat.

Unser Antrag zielt deswegen auf zwei wesentliche Bereiche ab. Erstens. Sachsen-Anhalt muss sich dafür einsetzen, dass Menschen, die gefährdet sind, aus Afghanistan herauskommen können und sichere Aufnahme finden.

(Beifall)

Dazu gehört die Etablierung von sicheren Fluchtwegen genauso wie von Visa-on-Arrival-Verfahren. Dazu gehört die Anerkennung der Gefährdung von Familien genauso wie der Verzicht auf den Zwang zur Kooperation mit afghanischen Behörden unter dem Regime der Taliban. Dazu gehört Hilfe für Anrainerstaaten, die Flüchtende, die auf dem Landweg ihr Glück versuchen, aufnehmen, genauso wie die Initiierung eines Landesaufnahmeprogramms, um damit den kommunalen Beschlüssen über sichere Häfen, wie sie bereits in Magdeburg und Halle vor langer Zeit getroffen worden sind, endlich zur Realisierung zu verhelfen. Dazu gehört Katastrophenhilfe angesichts der zusätzlich auftretenden Dürre in Afghanistan

(Zuruf: Oh! Dürre nun auch noch? - Lachen - Weitere Zurufe)

genauso wie ein breit angelegtes Resettlement-Programm für besonders gefährdete Berufs- und Personengruppen

(Beifall)

und jene, die gefährdet sind.

Zweitens. Sachsen-Anhalt muss alles dafür tun, dass bereits in Deutschland und in Sachsen-Anhalt lebende Afghaninnen und Afghanen möglichst schnell einen gesicherten Aufenthaltsstatus bekommen, die Chance bekommen, arbeiten zu gehen und ihre Familien zu versorgen. Das geht mit vielen vermeintlich kleinen Schritten einher, die aber große Auswirkungen haben: die Ermöglichung schneller Asylfolgeverfahren für bisher abgelehnte Asylersuchen, die Möglichkeit eines einfacheren Statuswechsels, z. B. vom Asylsuchenden zum Studierenden oder Azubi, und viele weitere.

(Zurufe)

Sie setzen eines voraus: den politischen Willen zu helfen, Verantwortung zu übernehmen und zu tun, was auf Landesebene möglich ist - was so wenig nicht ist  , sowie auf der Ebene des Bundes für das zu streiten, was nötig ist, um Afghaninnen und Afghanen aufzunehmen, unterzubringen und ihnen die Chance auf ein sicheres und selbstbestimmtes Leben zu geben.

(Zustimmung)

Natürlich ist mir klar, dass dieser Tagesordnungspunkt dafür geeignet ist, dass Sie, meine Damen und Herren, über alles Mögliche reden: über die friedenspolitischen Grundsätze meiner Partei, über unser Abstimmungsverhalten zu einem Bundeswehrmandat, das einen Tag lang währte und nur einen kleinen Teil der Gefährdeten überhaupt in den Blick nahm, darüber, dass Sachsen-Anhalt allein nicht die Probleme der Welt lösen könne, über die Notwendigkeit europäischer Lösungen, über angeblich falsche Signale, wahrscheinlich auch über Verwaltungsvorschriften, die dem entgegenstünden, so als ob diese nicht geändert werden könnten.

(Zuruf: Oh!)

Ich sage Ihnen für meine Fraktion sehr klar: Wir können gern über die Positionen meiner Partei streiten. Aber nach 20 Jahren Militäreinsatz in Afghanistan, 40 Jahren Krieg in diesem Land und angesichts eines Taliban-Regimes, das innerhalb kürzester Zeit die Kontrolle übernehmen konnte, üppig mit Waffen ausgestattet ist, Zugriff auf Infrastruktur und sensible Daten hat und offensichtlich nicht geschwächt ist, müssen wir vor allem darüber reden, dass dieser War on Terror gescheitert ist.

(Zustimmung)

Genau hier sollte der die Demokratinnen und Demokraten einende Punkt liegen. Das alles sollte uns alle demütig machen, beschämen und uns zwingen, uns zu verhalten.

Das falscheste Signal, das dieser Landtag senden könnte, wäre, so zu tun, als ginge uns die Lage in Afghanistan nichts an. Sie geht uns etwas an.

(Zustimmung)

Sie hat mit den Menschen, die hier leben, zu tun. Und sie beschäftigt Menschen in diesem Land. Ich habe in meinem Wahlkreisbüro zahlreiche Anrufe von Menschen bekommen,

(Zurufe: Wir auch! - Gucken wir mal! - Weitere Zurufe)

die Angst haben, die um das Leben ihrer Familien in Afghanistan fürchten und die sich fragen, wo eigentlich ihre Verbündeten sind. Zahlreiche Menschen, aber auch Vereine wie Paritätischer, Caritas, Diakonie und viele andere, positionieren sich bundesweit und hier in Sachsen-Anhalt und stehen sehr klar für Humanität und Hilfe. Sie machen auch klar, dass sie für alle damit verbundenen Integrations- und Hilfsprogramme als Verbündete, als Expertinnen und als aktive Fachkräfte bereitstehen. Nehmen wir ihre Impulse auf und handeln wir! - Danke.

(Zustimmung)


Vizepräsident Wulf Gallert:

Frau Quade, es gibt eine Frage des Kollegen Krull. Wollen Sie die beantworten?


Henriette Quade (DIE LINKE):

Ja.


Vizepräsident Wulf Gallert:

Sie will sie beantworten. Das gibt Ihnen die Chance, sie zu stellen. Sie denken daran, dass die Redezeit eine Minute beträgt. Wir sind in einer Dreiminutendebatte.


Tobias Krull (CDU):

Vielen Dank, Frau Quade, für die Ausführungen. Sie haben es in Ihrem Vortrag schon angesprochen, aber leider die Frage nicht beantwortet, wie Sie selbst das Abstimmungsverhalten Ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag zum Rettungseinsatz bewerten. Das würde mich sehr interessieren.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich - auch für meine Fraktion, denke ich - meinem Dank Ausdruck verleihen für die Kameradinnen und Kameraden, die sich an diesem Rettungseinsatz in Afghanistan beteiligt haben,

(Starker Beifall)

und für die vielen auch aus Sachsen-Anhalt stammenden Kameradinnen und Kameraden, die in Afghanistan im Einsatz waren. Übrigens haben auch wir in Sachsen-Anhalt bei diesem Einsatz Tote zu beklagen gehabt. Die sollten wir in der Diskussion auch nicht vergessen.


Henriette Quade (DIE LINKE):

Da haben Sie recht, Herr Krull. Da haben Sie recht. Umso fassungsloser macht es mich ja, dass angesichts einer über Jahre und Jahrzehnte währenden militärischen Intervention, die damit einherging, in Afghanistan Ortskräfte anzuwerben, mit Subunternehmen zu arbeiten, Menschen auszubilden und in verschiedenen Professionen Menschen zu schützen, diese Leute, die hauptsächlich vom Regime der Taliban bedroht und betroffen sind, jetzt allein gelassen werden. Genau das ist der Punkt.

Und ich beantworte Ihnen auch die Frage nach dem Abstimmungsverhalten meiner Fraktion. Ich persönlich hätte mich anders entschieden. Ich hätte diesem Einsatz zugestimmt.

Ich erkenne aber an und kann gut nachvollziehen, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag gesagt haben: Ihr beschließt ein Mandat viel zu spät. Zu einem Zeitpunkt, als Zeit gewesen wäre, Menschen richtig zu helfen, viele Menschen rauszuholen und umfassend Evakuierungswege zu etablieren, waren Sie nicht bereit, das zu tun. Da haben SPD, CDU und AfD den Antrag im Deutschen Bundestag abgelehnt.

Der Außenminister hat erklärt, es gibt gar keine Gefahr; wir gehen nicht davon aus, dass die Taliban regieren werden. Wir haben es mit einer massiven Fehleinschätzung und mit einem Schönreden der Lage zu tun. In einer Situation, die so ist, bei einem Bundeswehreinsatz, von dem man weiß, dass er nur eine ganz begrenzte Halbwertzeit hat und nur einen Bruchteil der Gefährdeten in den Blick nimmt, weil es in allererster Line um die Deutschen ging, die noch in Afghanistan sind,

(Zuruf)

und die anderen, in der Zahl sehr viel mehr und bei Leib und Leben akut Bedrohten, können wir noch retten, wenn noch Zeit ist - da nicht zuzustimmen kann ich auch nachvollziehen.

(Zustimmung)