Juliane Kleemann (SPD):

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Problemlage ist überdeutlich und hier schon reichlich erzählt und beschrieben worden. Der Rückgang der Biodiversität ist keine Bagatelle. Er ist eine existenzielle Herausforderung, gleichzusetzen mit dem Klimawandel.

Der Raubbau an der Natur fordert zusehends seinen Tribut. Gesunde Böden, unterschiedlichste Insektenarten, eine vielfältige Flora und Fauna wären eine schöne Lebensgrundlage für heute und morgen. Sie wären eine Basis für ein gesundes und komfortables Leben auf allen Kontinenten. Sie wären eine Basis für eine gut funktionierende Landwirtschaft und für gesunde Ernährung. Wäre alles in Ordnung, würden unsere Wälder dicht stehen, wären die Moore gesund und würden anständig CO2 speichern.

Wäre, könnte, hätte: Diese Konjunktive bestehen leider. Denn das meiste ist gerade nicht intakt. Die Auswirkungen sind allerorten zu spüren. Allerdings können wir uns hier im reichen Norden noch einiges durch Geldleistungen sozusagen freikaufen und merken davon noch nicht so viel. 

Die konkreten Zahlen weltweit sind dramatisch. Circa eine Million Tier- und Pflanzenarten sind akut vom Aussterben bedroht. Dazu gehört auch die Biene. Sie fehlt als Bestäuber. Diese Ökosystemleistung droht massiv zu verschwinden, und zwar komplett. 75 % unserer Nutzpflanzen sind auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen. Die Biene steht also symbolhaft für die Leistung des Kleinen für das gesamte Leben. Sie bestäubt unermüdlich, verarbeitet organische Masse, bekämpft Schädlinge, ist Putzfrau für Gewässer.

Blühstreifen sind also relevant. Eine gute Entwicklung zu einer durchgängig guten, nachhaltigen Landwirtschaft ist unabdingbar. Das wissen die meisten Landwirtinnen und Landwirte und haben die Artenvielfalt im Blick. Der Weg liegt also in der Kooperation zwischen denen, die Landwirtschaft betreiben, und denen, die für Artenvielfalt prioritär unterwegs sind. Es gilt, gemeinsam weiter mit den Landwirtinnen und Landwirten Wege für ausreichend Blühstreifen zu finden, gemeinsam die alte Gewohnheit von Bienenstöcken am Feldrand wieder zu ermöglichen, miteinander zu besprechen, wann gedüngt wird und die Bienen geschützt werden müssen - summa summarum gesamtheitlich zu denken und nicht nur für den jeweils eigenen Bereich.

Die Waldwirtschaft macht vor, wie das gehen kann: In Dekaden denken, nicht in schnellem Ertrag. Der Wald als Schutzraum für Flora und Fauna ist existenziell. Ich will nur ein Beispiel nennen: Wir in Sachsen-Anhalt können stolz sein, dass wir den Nationalpark als eine solche Einrichtung haben.

Vor diesem Hintergrund, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist klar: Biodiversität, Klimawandel und Wasser betreffen echte Existenzfragen. António Guterres fand dafür in seiner Eröffnungsrede am 7. Dezember in Montreal markige Sprachbilder. Er sagte: Wir müssen einen Friedenspakt mit der Natur schließen. Auch sagte er: Wir behandeln die Natur wie eine Toilette und begehen damit Selbstmord.

Der Verlauf der Verhandlungen in Montreal ist bisher sehr ernüchternd. Um im Bild zu bleiben: Offenbar ist es leichter, länger im Gestank der eigenen Toilette zu verharren, als zu verstehen, dass der Abfluss verstopft ist und man entweder selbst zu „Abflussfrei“ greift oder aber den Klempner anruft. Man muss sich muss sich bloß im Klaren darüber sein, was teurer ist. 

Mit Geld können wir uns im Norden noch eine Weile freikaufen von einem ambitionierten Arten- und Naturschutz. Aber auch das ist endlich. Wie wäre es, wenn wir hier im Land die Prüfung aller Vorhaben grundsätzlich um die Punkte Abfall- und Verschmutzungsaufkommen sowie Ressourcenverbrauch erweitern würden? 

Tagespolitik thematisiert oft konkrete Punkte und damit Ausschnitte aus dem Ganzen. Artensterben, Biodiversität und Klimakrise beschreiben aber nicht Ausschnitte, sondern den Rahmen für alles. Bei unserem Thema geht es also um Haltung und Bewusstseinsschärfung. So wie das tägliche Zähneputzen zum Alltag gehört, brauchen wir, so finde ich, für diese Menschheitsaufgabe genauso eine Selbstverständlichkeit. 

Für diejenigen, die gern in Geldsummen denken: Der volkswirtschaftliche Gesamtwert einer intakten Natur und damit der gesunden Biodiversität liegt bei etwa 170 Billionen bis 190 Billionen Dollar, so die Frankfurter Erklärung vom 29. November. Was seit der ersten Veröffentlichung des Club of Rome 1972 schon bekannt ist, aber zu wenig Beachtung fand, ist leider noch immer Realität. Das aktuelle Wirtschaftsmodell nimmt die Leistungen der Natur unbezahlt in Anspruch. Wir sind also weiterhin auf dem Weg der Übernutzung und Vernichtung lebenswichtiger natürlicher Lebensgrundlagen.

Wenn in jeder Haushaltsaufstellung neben den üblichen Angaben auch eine Zeile zu der „Wiederbeschaffung der verbrauchten natürlichen Ressourcen“ enthalten wäre, dann wäre das ein kleiner Schritt zu einer stärkeren Bewusstseinsschärfung.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Für viele ist die Adventszeit völlig normal verbunden mit viel Nascherei. Ein weiterer Verlust der Artenvielfalt könnte diese Lust allerdings schmälern. Denn der in so vielen Leckereien enthaltene Kakao lebt davon, dass besonders zwei kleine Insektenarten munter, fröhlich und gesund sind, nämlich Ameisen und Fliegen. Es braucht Kakaoplantagen, die von Schatten spendenden Bäumen umsäumt sind, und unsere adventliche Nascherei - diejenigen von Ihnen, die jetzt nicht in der Fastenzeit sind, genießen das - kann einfach ungehindert weitergehen. Aber der Kakao wird zunehmend als Monokultur in der Sonne angebaut und das muss auf lange Sicht scheitern. Ameisen und Fliegen mögen diese Bedingungen gar nicht. Technischer Fortschritt gleicht all das nicht aus.

(Zustimmung von Dorothea Frederking, GRÜNE)

Am Ende - auch das wissen wir seit 50 Jahren durch den ersten Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ - hilft perspektivisch für diese globale Aufgabe nur ein anderes Wirtschaften. 

(Zustimmung von Dorothea Frederking, GRÜNE)

Deswegen bleibt es unverständlich, warum wir noch immer das Wachstumspostulat nach vorn stellen, zumal der Earth Day im Jahr immer weiter nach vorn rutscht und wir jetzt mittlerweile schon im ersten Halbjahr angekommen sind.

(Zustimmung von Dorothea Frederking, GRÜNE, und von Olaf Meister, GRÜNE)

Ich finde, deutlicher können die Signale gar nicht werden. 

(Guido Kosmehl, FDP: Aber Wachstum sichert Wohlstand!)

Die vor 50 Jahren zugrunde gelegten Kriterien des Club of Rome sind immer noch aktuell: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, nicht erneuerbare Ressourcen, Umweltschäden. Sehr ähnliche Kriterien führen übrigens zu Krieg, Vertreibung und Migration. Diese Erfahrung rückt uns hier im globalen Norden quasi wöchentlich näher auf den Leib.

Wir brauchen also weltweit ein verstärktes soziales und ökologisches Gleichgewicht, sonst laufen wir unweigerlich in eine Katastrophe und auch unser Reichtum hier im Norden ist perspektivisch gefährdet. Wir brauchen also eine andere Denk- und Verhaltensweise, um die Krise zu bewältigen. Das hat der Deutsche Christian Berg festgehalten und in seinem im Jahr 2020 erschienenen Bericht an den Club of Rome „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ beschrieben.

Auch die moderne Volkswirtschaftslehre befasst sich mit der Gestaltung einer Postwachstumsgesellschaft. Die Leitfrage in dieser Perspektive lautet: Wie kann eine Wirtschaft gestaltet werden, in der Umbau und Schrumpfen mit einem guten Leben auf allen Kontinenten einhergeht und Wohlstand eben nicht eine Frage von Reichtum ist, sondern eine Frage von Frieden, Gerechtigkeit, persönlichen Entwicklungschancen und Bildung? Wenn etwas wachsen darf, was kann das sein? Wirtschaften unter den Bedingungen der Nachhaltigkeit und der Gerechtigkeit ist das Gebot der Stunde. Dann laufen die Dinge wie Klimaschutz und Artenschutz unweigerlich mit.

Zurück zu Montreal 2022. Die Tagung geht noch fünf Tage. Wir dürfen sehr gespannt sein, was am Ende dabei herauskommt. Auf der einen Seite teile ich, ehrlich gesagt, die Skepsis: Möglicherweise wird es wirklich nicht zu einem Paris-Moment kommen. Aber auf der anderen Seite bin ich bis zum 19. Dezember hoffnungsvoll, dass wir vielleicht in die Nähe eines Paris-Moments kommen. 

Der Kampf gegen den Klimawandel und der Kampf für biologische Vielfalt gehören zusammen. Die Freude an der Vielfalt der Natur muss im Alltag gegenwärtig sein und nicht nur bei Wochenendspaziergängen im Wald oder auf der weiten Flur.

Wir brauchen - diesbezüglich bin ich sehr bei António Guterres - einen Friedenspakt mit der Natur. Die Gestaltungsmöglichkeiten hier im Land sind vielfältig. Ich glaube, sie hängen wirklich weniger am Geld als an den Möglichkeiten und dem kooperativen Denken. Sie sind abhängig von dem Mut, gute Pfade zu stabilisieren, neue Pfade zu denken und alte zu verlassen. Gestatten Sie mir, dies am Ende zu bemerken: Neu zu denken, Mut zu haben und alte Pfade zu verlassen, ist eine Botschaft von Weihnachten, für alle diejenigen, die in zehn Tagen Heiligabend feiern. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)


Präsident Dr. Gunnar Schellenberger:

Danke. - Es gibt eine Frage von Herrn Scharfenort.

(Jan Scharfenort, AfD: Intervention!)

- Verzeihung, Sie haben recht. Es ist eine Intervention.

(Ulrich Siegmund, AfD: Inhaltlich stellen!)


Jan Scharfenort (AfD): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte einfach einmal mit dem Wachstumsbegriff und den Irrtümern, insbesondere bei den Linken, aufräumen. Natürlich bedeutet Wachstum nicht nur den Verbrauch von Naturressourcen. Wachstum bedeutet auch Produktivitätsfortschritte, die durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt ausgelöst werden. 

Solange die Produktivität in einer Volkswirtschaft steigt, haben wir natürlich auch Wachstum zu verzeichnen. Das ist sehr wohl anzustreben. Sie wollen den vernichten, so scheint es mir. Aber es ist einfach ein Irrglaube, das immer nur an den Verbrauch von Naturressourcen zu koppeln.

Solange dem Menschen - das Postulat kann man sicherlich aufrechterhalten - immer wieder etwas Neues einfällt und er neue Erfindungen hervorbringt, solange können wir     Solange wir dieses Postulat aufrechterhalten - in Deutschland ist das bei unserem Bildungsstand wahrscheinlich nicht der Fall, aber auf der Welt insgesamt wird dem Menschen der Ideenreichtum nicht ausgehen; wir können weiterhin unterstellen, dass ihm immer wieder etwas Neues einfällt  , solange ist auch Wachstum unbegrenzt möglich. Insofern noch einmal: Aufklären mit den Irrtümern der Linken.

(Beifall bei der AfD)